blanvalet

Die englische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »The Darkwar 2, Into a Dark Realm« bei Voyager, an Imprint of HarperCollinsPublishers, London

1. Auflage
Deutsche Erstausgabe Oktober 2007 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2006 by Raymond E. Feist Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Verlagsgruppe Random House GmbH Scan by Brrazo 03/2008
Umschlaggestaltung: HildenDesign München Umschlagfoto: Agt. Schlück GmbH/Ken Kelly Redaktion: Alexander Groß
HK · Herstellung: Heidrun Nawrot
Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-24.414-0

www.blanvalet.de

 

Das hier ist für Janny, Bill, Joel und Steve Weil sie ihre Begabung mit uns geteilt haben Eins
Jagd

 

Eine Frau schrie empört auf.

Drei junge Männer kippten Karren um und stießen Einkaufende aus dem Weg, als sie über den abendlichen Markt rannten. Ihr Anführer – ein großer, hagerer junger Mann mit rotem Haar – zeigte auf den immer kleiner werdenden Rücken des Gejagten und schrie: »Dort ist er!«

Es wurde Abend in der Hafenstadt Durbin, als die verzweifelten Männer durch die Straßen rannten. Kaufleute nahmen rasch ihre teuerste Ware von den Tischen, denn die jungen Krieger stießen jeden und alles beiseite, was ihnen im Weg stand. Sie ließen Empörung, Flüche und Drohungen hinter sich und ignorierten sie vollständig.

Die Sommerhitze der Jal-Pur-Wüste lag immer noch auf dem Kopfsteinpflaster der Stadt, obwohl inzwischen ein schwacher Wind vom Meer blies. Selbst die Hafenmöwen gaben sich meist damit zufrieden, einfach nur dazustehen und darauf zu warten, dass ein Bröckchen vom Karren eines Händlers fiel. Die Ehrgeizigeren erhoben sich in die Luft, schwebten einen Moment träge in der Hitze, die von den Steinen des Hafens ausging, dann kehrten sie rasch wieder zurück, um neben ihren Schwestern stehen zu bleiben.

Es war voll auf den abendlichen Märkten, denn die meisten Bewohner von Durbin hatten den glühend heißen Nachmittag mit einer Rast im Schatten verbracht. Das Tempo der Stadt war eher gemächlich, denn dies waren die heißesten Tage des Sommers, und die Menschen, die am Rand der Wüste wohnten, wussten es besser, als sinnlos gegen die Elemente anzukämpfen. Die Dinge waren, wie die Götter es wünschten.

Also stellte der Anblick von drei bewaffneten und offensichtlich gefährlichen jungen Männern, die einen weiteren verfolgten, zwar im Allgemeinen in Durbin nichts Ungewöhnliches dar, aber zu dieser Jahres- und Tageszeit kam er eher unerwartet. Es war einfach zu heiß, um zu rennen.

Der Mann, der versuchte zu fliehen, sah wie ein Wüstenbewohner aus: dunkelhaarig und mit dunkler Haut, gekleidet in ein weites Hemd und eine weite Hose, mit mitternachtsblauem Kopfputz, einem offenen Gewand und niedrigen Stiefeln. Seine Verfolger wurden von einem Nordländer angeführt, der vermutlich aus den Freien Städten oder dem Königreich der Inseln stammte. Sein rötliches Haar war im Reich Groß-Kesh sehr ungewöhnlich.

Seine Begleiter waren ebenfalls junge Männer, einer breitschultrig und dunkelhaarig, der andere blond und ein wenig schlanker. Sie waren alle sonnenverbrannt und schmutzig und hatten verbissene Mienen, die sie um Jahre älter aussehen ließen. Ihre Aufmerksamkeit war auf den Verfolgten gerichtet, und sie hielten die Waffen in der Hand wie Leute, die daran gewöhnt sind. Ihre Kleidung wies auf eine Herkunft aus dem Tal der Träume hin – Reithosen, Leinenhemden, Reitstiefel und Lederwesten statt weiter Gewänder und Sandalen. Wahrscheinlich handelte es sich um Söldner, was auch ihre finstere Entschlossenheit erklären würde.

Sie erreichten eine Hauptverkehrsstraße, die zu den Docks führte, und der Fliehende schoss zwischen Kaufleuten, Einkäufern und Hafenarbeitern hindurch, die nach getaner Arbeit nach Hause gingen. Der Anführer der Verfolger hielt einen Augenblick inne und sagte: »Er ist unterwegs zum Dock der Getreidehändler.« Mit einer raschen Geste schickte er seinen blonden Freund eine Seitenstraße entlang, dann bedeutete er dem Dunkelhaarigen mitzukommen.

»Ich hoffe, du hast recht«, sagte der ein wenig kleinere Mann. »Ich habe langsam genug von der Rennerei.«

Mit einem raschen Blick und einem Grinsen sagte der Anführer: »Du verbringst zu viel Zeit in Bierhäusern, Zane. Wir müssen dich zurück zur Insel bringen und Tilenbrooks liebevoller Aufmerksamkeit übergeben.«

Der andere war zu sehr außer Atem, um irgendetwas von sich zu geben außer einem schnaubenden Geräusch, das aber deutlich genug machte, dass er die Bemerkung ganz und gar nicht erheiternd fand. Er wischte sich rasch den Schweiß von der Stirn, dann musste er sich beeilen, um seinen höher gewachsenen Begleiter wieder einzuholen.

Die Bewohner von Durbin kannten sich aus, wenn es um Duelle, Prügeleien, sich bekriegende Banden, Aufstände und alle anderen Arten von Unruhen ging. Als Jommy und Zane die Ecke erreichten, um die der Verfolgte verschwunden war, waren die Straßen zu den Docks beinahe leer. Passanten, Kaufleute und Seeleute auf dem Weg zu Schänken und Gasthäusern in der Nähe hatten den Ärger gespürt und waren in Deckung gegangen, wie jämmerlich diese Deckung auch sein mochte. Türen schlossen sich, Fensterläden krachten zu, und die, die nicht in Häuser gelangen konnten, taten ihr Bestes, anderweitig Schutz zu finden.

Während Jommy Kiliroo die kleine Gestalt des Fliehenden im Auge behielt, schaute Zane conDoin in jeden Türeingang, an dem sie vorbeikamen, und hielt bei jeder Gasse nach einem möglichen Hinterhalt Ausschau. Aber er entdeckte nur Bewohner von Durbin, die sich duckten und darauf warteten, dass der Ärger vorüberging.

Jommy sah, wie ihr Mann um eine Ecke am Ende der Straße rannte, und errief seinem Kumpan zu: »Direkt auf Tad zu, wenn er so schnell ist wie immer!«

Zane grinste. »Das ist er. Suri wird uns nicht entkommen.«

Einen Monat lang hatten Jommy, Tad und Zane jetzt diesen Mann verfolgt, einen ehemaligen Händler namens Aziz Suri, einen Wüstenbewohner aus der Jal-Pur, der angeblich Gewürze und Öle aus den Freien Städten importierte. Außerdem betätigte er sich auch als Spion, Informationsmakler, Händler von Geheimnissen und enge Kontaktperson der Nachtgreifer, der Gilde des Todes. Einen Monat zuvor, beim Mittsommerfest des Kaisers von Kesh, war eine Intrige, deren Ziel darin bestand, das Kaiserreich zu destabilisieren und in einen Bürgerkrieg zu stürzen, von den Agenten des Konklaves der Schatten vereitelt worden, und nun störten seine Mitglieder die verbliebenen Gruppen von Attentätern auf, um ihrer jahrhundertelangen Schreckensherrschaft ein Ende zu machen.

Zane musste sich anstrengen, um Jommy einzuholen. Er konnte zwar so weit rennen wie der höher gewachsene junge Mann, schaffte das aber nicht in dem gleichen Tempo wie sein längerbeiniger Freund, und vielleicht hatte Jommy ja recht, und er hatte tatsächlich ein paar Abende zu viel im Bierhaus verbracht. Seine Hose war in letzter Zeit ein wenig eng geworden.

Als sie das Ende der Straße erreichten, lagen die Getreidehändler-Docks vor ihnen: eine lange Reihe von Steinmauern, unterteilt von drei größeren Lastkränen vor zwei massiven Lagerhäusern. Vom anderen Ende der Hafenanlage rannte Tad auf sie zu, rief: »Da drinnen!«, und bedeutete ihnen, dass der Verfolgte in den engen Durchgang zwischen den zwei Lagerhäusern geschlüpft war.

Jommy und die beiden Jüngeren versuchten nicht zu verbergen, dass sie näher kamen, denn nach einem Monat in Durbin kannten sie diesen Teil der Stadt ziemlich gut – gut genug, um zu wissen, dass der Verfolgte gerade in eine Sackgasse gerannt war. Als sie die schmale Öffnung erreichten, kam der Mann auch tatsächlich wieder herausgeschossen und rannte direkt zum Hafen. Die untergehende Sonne glitzerte rötlich auf dem Meer, und er blinzelte und hob die Hände, um die Augen abzuschirmen.

Jommy streckte die Hand aus, und es gelang ihm, den Arm des Mannes eine Sekunde lang zu packen und ihn herumzureißen. Der Mann schlug um sich und geriet aus dem Gleichgewicht. Jommy streckte die Hand erneut aus und versuchte, das Hemd des Mannes zu packen, brachte ihn aber nur noch mehr ins Stolpern. Bevor sie den schlanken Kaufmann festhalten konnten, krachte er gegen den mittleren Kran.

Einen Augenblick betäubt, drehte der Wüstenbewohner sich um, schwankte ein wenig und machte dann, als er wieder zu Bewusstsein kam, einen Schritt vom Dock.

Ein Schrei wie der eines Hundes, auf dessen Pfote gerade jemand getreten war, erklang, als er über den Rand verschwand. Die drei jungen Männer eilten zum Rand und schauten darüber hinweg. Vom Kranseil, direkt über einem grobmaschigen Frachtnetz, hing der kleine Händler und schleuderte laute Schmähungen nach oben, nachdem er einen Blick auf die Felsen unter der Landungsbrücke geworfen hatte. Es herrschte Ebbe, also würden nur ein paar Zoll Wasser den baumelnden Mann davor schützen, sich schwer zu verletzen. Die flachen Barken, die benutzt wurden, um das Getreide zu den Schiffen im Hafen zu bringen, waren bereits in tieferem Wasser verankert. »Zieht mich hoch!«, schrie er.

Jommy sagte: »Warum sollten wir, Aziz? Du hast uns auf eine unangenehme Hetzjagd durch ganz Durbin geführt, und das in dieser elenden Hitze.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und schnippte ihn mit der Hand zu dem Mann nach unten, um zu demonstrieren, wie erschöpft er war. »Und dabei wollten wir uns nur einmal kurz und in Ruhe mit dir unterhalten.«

»Ich kenne euch mörderische Halsabschneider«, sagte der Händler. »Wenn ihr euch mit jemandem unterhaltet, wird er bald umgebracht.«

Tad sagte: »Mörderische Halsabschneider? Ich glaube, er hat uns mit jemandem verwechselt.«
Zane zog das Messer, das er am Gürtel trug. »Mein Bruder denkt, du verwechselst uns mit einem anderen Haufen mörderischer Halsabschneider. Ich bin da nicht so sicher.« Mit einem Blick auf seine Kameraden fragte er: »Wenn ich dieses Seil jetzt durchschneide, wie, glaubt ihr, stehen seine Chancen?«
Tad beugte sich vor, als wollte er die Angelegenheit genauer betrachten, dann erklärte er: »Es sind nicht mehr als zwanzig Fuß bis zu diesen Steinen. Ich denke, wenn er Glück hat, wird er sich nur die Beine oder einen Arm brechen.«
Jommy sagte: »Das hängt davon ab, wie er fällt. Ich habe mal gesehen, wie jemand rückwärts von einer Leiter fiel, nur von der untersten Sprosse, und er prallte mit dem Kopf am Boden auf und brach sich den Schädel. Er brauchte eine Weile, um zu sterben, aber er war am Ende tot, und tot ist tot.«
»Ich könnte es abschneiden, und dann sehen wir, was passiert«, schlug Zane vor.
»Nein!«, schrie der Händler.
»Nun, die Abendflut kommt langsam herein«, sagte Tad zu Aziz. »Wenn du noch ein paar Stunden hängen bleibst, solltest du imstande sein, einfach loszulassen und zu dieser Treppe dort zu schwimmen.« Er zeigte auf die andere Seite.
»Es sei denn, die Haie erwischen ihn vorher«, sagte Jommy zu Zane.
»Ich kann nicht schwimmen!«, rief der Händler.
»Ja, wahrscheinlich hat man in der Wüste nicht viel Gelegenheit dazu, es zu lernen«, stellte Zane fest.
»Dann steckst du wirklich bis zum Hals im Dreck, wie, Kumpel?«, fragte Jommy. »Was hältst du von einem kleinen Handel? Du beantwortest eine Frage, und wenn mir die Antwort gefällt, ziehen wir dich hoch.«
»Und wenn dir die Antwort nicht gefällt?«
»Schneidet er da« – Jommy zeigte auf Zane – »das Seil durch. Und wir sehen, ob du bei dem Sturz umkommst oder nur dein Leben ruinierst – bevor die Abendflut kommt und dich auf jeden Fall ersäuft.«
»Barbar!«
Jommy grinste. »So bin ich schon öfter genannt worden, nachdem ich nach Kesh kam.«
»Was wollt ihr wissen?«, fragte der Wüstenmann.
»Nur eins«, sagte Jommy, und plötzlich war sein Grinsen verschwunden. »Wo steckt Jomo Ketlami?«
»Ich weiß es nicht!«, rief der Mann und versuchte, mit den Füßen Halt an dem baumelnden Frachtnetz zu finden.
»Wir wissen, dass er irgendwo in der Stadt ist!«, sagte Jommy. »Wir wissen, dass er die Stadt nicht verlassen hat. Und wir wissen, dass du seit Jahren mit ihm Geschäfte machst. Also bieten wir Folgendes an: Du sagst uns, wo er steckt, und wir ziehen dich hoch. Dann suchen wir ihn, finden heraus, was wir wissen wollen, und bringen ihn um. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Oder du sagst es uns nicht, und wir lassen dich hängen. Du kannst vielleicht auf den Kran klettern und von dort irgendwie runterfinden. Aber selbst wenn, brauchen wir nur zu verbreiten, dass du Ketlami verraten hast. Und dann müssen wir dich nur noch im Auge behalten, bis er dich umbringt, und erwischen ihn ebenfalls.« Jommys Grinsen kehrte zurück. »Deine Entscheidung, Kumpel.«
»Das kann ich nicht!«, rief der entsetzte Händler.
»Fünf kaiserliche Silberstücke, dass er nicht stirbt, wenn er unten aufprallt«, sagte Tad.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Zane. »Wenn er ungünstig fällt …«
»Also, dann wette dagegen.«
Zane nickte. »In Ordnung.«
»Wartet!«
Jommy sagte: »Ja?«
»Bitte schneidet das Seil nicht durch. Ich habe Kinder, um die ich mich kümmern muss!«
»Lügner!«, sagte Zane. »Es ist wohlbekannt, dass du den Mädchen in den Bordellen erzählst, du hättest keine Frau.«
»Ich habe auch nicht behauptet, dass ich eine Frau habe«, erklärte der kleine Mann. »Aber ich kümmere mich tatsächlich um die Handvoll Bastarde, die ich gezeugt habe.«
»Du bist ein Ausbund an Großzügigkeit, Kumpel«, stellte Jommy fest.
»Es gibt Männer, die erheblich weniger für ihren Nachwuchs tun«, erwiderte der baumelnde Händler. »Ich habe den Ältesten sogar in mein Haus genommen, damit er ein Handwerk lernt.«
»Welches denn?«, fragte Zane. »Handel, Spionieren, Lügen oder beim Kartenspiel betrügen?«
»Weißt du«, fragte Tad, »dass die Flut kommt, während wir hier stehen und uns unterhalten?«
»Und?« Jommy sah seinen Freund mit zusammengekniffenen Augen an.
»Nun, wenn wir das Seil nicht bald durchschneiden, ist es möglich, dass er einfach ertrinkt, und das bedeutet, dass die Wette nicht gilt.«
»Das kann ich nicht zulassen«, sagte Zane. Er fuchtelte mit dem großen Jagdmesser herum, das er in der Hand hielt, und begann, an dem schweren Seil zu schneiden, das sich durch den Flaschenzug hoch auf den Kran zog.
»Nein!«, schrie der kleine Mann. »Ich werde reden!«
»Dann rede«, erwiderte Jommy.
»Erst wenn ihr mich hochzieht!«
Zane warf einen Blick zu seinen Kameraden. »Eine vernünftige Bitte?«
»Na ja, ich glaube nicht, dass er uns alle drei niederschlagen kann«, sagte Tad. »Immerhin ist er unbewaffnet und ein dürrer kleiner Kerl, und wir sind … wie hat er uns noch genannt?«
»Mörderische Halsabschneider«, half ihm Zane aus.
»Also zieht ihn hoch«, sagte Jommy.
Tad und Zane packten beide die schwere Winde, die benutzt wurde, um das Netz hochzuziehen, und begannen sie zu drehen. Sie war gut geölt, also bewegte sie sich schnell, und der kleine Mann kam rasch das Dutzend Fuß hoch, das notwendig war, um seinen Kopf über den Rand der Landungsbrücke zu bringen.
Jommy hatte sein Schwert gezogen und zeigte auf eine Stelle am Dock. »Bringt ihn dorthin, Jungs.«
Tad und Zane hörten auf, die Winde zu drehen, stellten sie fest, damit das Netz nicht wieder zurückfiel, und dann packten sie den langen Holzarm, mit dem die Fracht herumgeschwungen wurde. Als sie den Händler sicher über festem Boden hatten, ließ er das Netz los, und Aziz fiel die paar Fuß auf die Steine.
Bevor er auch nur daran denken konnte, wieder zu fliehen, hatte Jommy die Schwertspitze auf die Kehle des Mannes gerichtet. »Und jetzt wirst du uns sagen, wo Jomo Ketlami steckt.«
Mit niedergeschlagenem Blick sagte Aziz: »Ihr müsst ihn finden und ihn schnell umbringen, und alle, die ihm dienen, denn wenn einer von diesen … diesen Mördern am Leben bleibt, ist es um mein Leben geschehen.«
»Das ist unser Plan«, erwiderte Jommy. »Und, wo steckt er?«
»Ihr habt euch geirrt, als ihr annahmt, dass er sich immer noch in der Stadt befindet. Er kennt mehr Wege durch die Mauern als eine Ratte aus dem Abflusssystem. Es gibt Höhlen in den Hügeln über dem Strand, einen halben Tagesritt nach Südwesten, und dort hält er sich versteckt.«
»Und du weißt das weshalb?«, fragte Tad.
»Er hat eine Botschaft geschickt, bevor er floh. Er braucht mich. Ohne mich hat er keine Möglichkeit, Botschaften an seine Verbündeten in anderen Städten am Bitteren Meer zu schicken. Ich soll innerhalb von zwei Nächten zu diesen Höhlen kommen, denn er hat Nachrichten für seine mörderischen Brüder.«
»Ich denke, wir sollten ihn einfach umbringen«, erklärte Zane. »Er steckt tiefer drin, als wir dachten.«
»Nein«, sagte Jommy und steckte sein Schwert ein, als Tad Aziz an der Schulter packte. »Ich denke, wir bringen ihn ins Gasthaus, und dort kann er mit eurem Vater sprechen, und wir werden ihm die Entscheidung überlassen.« An den Händler gewandt stellte er fest: »Mir ist es gleich, ob du lebst oder stirbst, also würde ich mich an deiner Stelle ein wenig anstrengen, uns zu überzeugen, dass es besser für alle Beteiligten ist, wenn du am Leben bleibst.«
Der Mann nickte.
»Komm mit«, sagte Jommy. »Wenn du uns belügst, werden deine Bastarde ohne dich auskommen müssen.«
»Ich schwöre bei ihren Köpfen, dass ich euch die Wahrheit sage.«
»Nein«, erwiderte Jommy. »Bei dieser Sache geht es um deinen Kopf, Aziz.«
Als die Sonne am westlichen Horizont verschwand, kehrten die vier Männer vom Hafen zurück in das Pestloch von einer Stadt, das sich Durbin nannte.

Bewaffnete bewegten sich leise durch die Nacht. Vor ihnen lag ein kleiner Höhleneingang, groß genug, dass ein Mann nach dem anderen hineingehen konnte, halb verborgen unter einer überhängenden Klippe, wo sich ein Hügel über dem Strand erhob, der von Jahren der Erosion schon ziemlich abgetragen war. Oberhalb der Klippe duckten sich zwei Bogenschützen, bereit, auf jeden zu schießen, der unerlaubt die Höhle verließ.

Nebel rollte vom Bitteren Meer heran, und durch die Wolken war kein Mond zu sehen. Die Nacht war pechschwarz, und die Männer rings um die Höhle konnten einander in dem schlechten Licht kaum erkennen.

Caleb, Sohn von Pug, bedeutete seinen drei Jungs zu warten. Hinter ihm stand sein Bruder Magnus bereit, um auf jeden eventuellen magischen Angriff reagieren zu können. Ein Dutzend weiterer Männer bildete einen Halbkreis um einen anderen Ausgang der Höhle hundert Schritte von ihnen entfernt.

Die beiden Brüder sahen einander sehr ähnlich. Sie waren groß und schlank, aber stark, das Haar fiel ihnen bis auf die Schultern, und sie hatten ihre beinahe königliche Haltung und ihre Augen, die durch einen hindurchzusehen schienen, von ihrer Mutter geerbt. Der einzige verblüffende Unterschied bestand in den Farben: Caleb hatte dunkelbraunes Haar und Augen von der gleichen Farbe, während Magnus’ Haar so hellblond war, dass es in der Sonne weiß aussah, und seine Augen waren hellblau. Caleb trug Jagdkleidung, Hemd und Hose, kniehohe Stiefel und einen Hut mit weicher Krempe, während Magnus ein schlichtes schwarzes Gewand angezogen und die Kapuze zurückgeschoben hatte.

Caleb und sein Bruder hatten den größten Teil der vergangenen Nacht mit dem Verhör des Händlers Aziz verbracht. Magnus konnte nicht wirklich auf magische Art herausfinden, ob der Händler die Wahrheit sagte oder log, aber Aziz wusste das nicht, und nach einer schlichten Demonstration von Magnus’ magischen Fähigkeiten war der Händler überzeugt, dass der Magier auch Wahrheit von Lüge unterscheiden konnte. Magnus kehrte mit Caleb vor dem Morgengrauen zurück, und dann setzten die beiden Brüder ihre jeweiligen Fähigkeiten – Fährtenlesen und Magie – ein, um sich zu überzeugen, dass sich der Gesuchte tatsächlich in der Höhle befand. Kurz vor dem Morgengrauen hatten zwei Nachtgreifer die Höhle verlassen und sich rasch in der Umgebung umgesehen. Magnus hatte einen Schwebezauber eingesetzt, um sich und seinen Bruder hundert Fuß über den Hügel zu bringen, also fanden die patrouillierenden Wachen keine Spur von ihnen, als sie die Kuppe des Hügels erreichten, und selbst wenn sie direkt nach oben geschaut hätten, hätten sie die beiden im Dunkeln wohl kaum entdeckt.

Ein einzelner Späher war ein Stück weiter die Küste entlang aufgestellt worden, um dafür zu sorgen, dass niemand floh, während Magnus zur Stadt Kesh zurückkehrte, um Chezarul zu holen, einen ehemaligen Händler, der zu den besten Agenten des Konklaves gehörte, und auch seine verlässlichsten Krieger mitzubringen. Sie alle waren dank der Magie innerhalb von Stunden bei der Höhle angekommen.

Nach ihrer Einschätzung hielt sich Jomo Ketlami zusammen mit mindestens einem halben Dutzend anderer Nachtgreifer hier auf und wartete auf Aziz, damit dieser für die Flüchtlinge einen sicheren Weg aus Kesh fand. Wenn man die Ereignisse des vergangenen Monats bedachte, waren dies vermutlich die zähesten, tückischsten, fanatischsten überlebenden Nachtgreifer.

Seit dem Anschlag auf den Kaiser durch den Zauberer Leso Varen hatten Soldaten des Kaiserreichs unter Anleitung keshianischer Spione und von Agenten des Konklaves der Schatten jedes Versteck in Kesh ausgehoben. Ein kaiserliches Dekret verurteilte sämtliche Nachtgreifer zum Tode.

Ähnliche Kampagnen hatten im Königreich der Inseln stattgefunden, und außerdem in Roldem, Olasko und mehreren größeren Städten der östlichen Königreiche. Das Konklave war sicher, dass es alle Standorte identifiziert hatte, mit einer Ausnahme: die Quelle dieser mörderischen Bruderschaft, wo ihr Großmeister wie eine riesige Spinne inmitten seines Netzes saß, das sich über einen gesamten Kontinent erstreckte. Und der Mann, der in den Höhlen nur ein paar Dutzend Schritte entfernt wartete, wusste, wo sich das Hauptquartier der Gilde des Todes befand.

Caleb gab ein Zeichen. Ein Wachposten hinter den Bogenschützen deckte eine Laterne auf, und die Männer ein Stück weiter den Strand entlang betraten langsam die zweite Höhlenöffnung. Magnus hatte all seine magischen Fähigkeiten angewandt, bevor er zu dem Schluss gekommen war, dass keine magischen Fallen auf sie warteten. Was ganz normale Fallen anging, konnte er nicht so sicher sein. Das Dutzend Männer, das die Höhle betrat, gehörte zu den fähigsten Agenten des Konklaves in Kesh, und sie waren vielleicht die erfahrensten Leute im Kaiserreich, was den Kampf Mann gegen Mann anging. Sie würden notfalls auch ihr Leben geben, denn sie wollten Midkemia endlich von diesen Attentätern befreien.

Ein anderes halbes Dutzend Männer nahm Position vor der zweiten Höhlenöffnung ein, und zwei weitere Bogenschützen warteten dort oberhalb der Klippen. Die Befehle waren klar:

Die Männer sollten ihr eigenes Leben schützen, aber Jomo Ketlami musste lebendig gefangen genommen werden.

Caleb bedeutete seinen Leuten, sich jetzt auch auf die kleinere Höhlenöffnung zuzubewegen und bereit zu sein, alle Fliehenden aufzuhalten. Mit Gesten, die in dem schwachen Laternenlicht kaum zu sehen waren, wies er sie an, ihre Stellungen zu beiden Seiten der Höhle einzunehmen. Er deutete auf den Mann mit der Laterne, der sie daraufhin wieder verschluss und damit den Strand erneut in Dunkelheit hüllte.

Die Minuten schleppten sich dahin, und die einzigen Geräusche waren die der rollenden Brandung und hin und wieder der Ruf eines Nachtvogels. Jommy nickte Caleb zu, der auf der anderen Seite der Höhlenöffnung wartete, dann drehte er sich um, um zu sehen, wie es seinen beiden jüngeren Gefährten erging. Im Dunkeln konnte er gerade so erkennen, dass sich Tad und Zane hinter ihm gegen die Klippe duckten. In den Monaten, in denen er bei ihnen gelebt hatte, hatte er begonnen, sich ihnen verwandt zu fühlen, und nahm immer öfter die Rolle eines größeren Bruders an. Die Familie hatte ihn willkommen geheißen und ihm das Gefühl gegeben, zu Hause zu sein. Sie waren alles andere als eine gewöhnliche Familie, aber er hatte das Ungewöhnliche als seinen Alltag akzeptiert, seit er Caleb und seine Adoptivsöhne kennengelernt hatte. Er wusste, er würde sterben, um sie zu verteidigen, und sie würden ihrerseits ihr Leben für ihn geben.

Plötzlich erklang ein Ruf von innerhalb der Höhle, und sofort folgten Kampfgeräusche.
Der erste Attentäter, der aus der Höhle kam, begegnete der flachen Seite von Calebs Klinge mit dem Gesicht. Blut schoss aus seiner gebrochenen Nase, als Jommy ihm mit dem Griff seines Schwerts an die Seite des Kopfes schlug. Zane packte den halb betäubten Attentäter am Kragen und riss ihn aus dem Weg.
Ein zweiter Nachtgreifer sah seinen Kameraden fallen, obwohl er nicht genau begreifen konnte, was dort im Dunkeln geschah, und zögerte, bevor er vorsprang, das Schwert bereit. Caleb vermied knapp einen Stoß in die Seite, und Jommy trat vor, um dem Mann einen Schlag auf den Kopf zu versetzen. Er spürte, dass etwas fest an seinem Hemd riss, und erkannte, dass er beinahe von einem weiteren Attentäter aufgespießt worden wäre, als er sich vor die Schwelle der Höhle bewegte. Er nahm das Brennen unten an seinem Rücken wahr, als der Schwertkämpfer die Klinge bewegte.
Jommy beachtete den Schmerz nicht, schlug dem Mann, der Caleb gegenüberstand, mit dem Schwertgriff gegen den Hinterkopf und spürte einen zweiten brennenden Schnitt, als der Schwertkämpfer hinter ihm versuchte, die Waffe aus seinem Hemd zu ziehen.
Caleb griff mit der linken Hand zu, packte Jommy am Hemd, riss fest daran und zog ihn aus dem Gefahrenbereich. Zane war gerade dabei, den Mann, der Jommy töten wollte, zu schlagen, als ein weiterer an ihm vorbeisprang und versuchte, hinunter zum Strand zu rennen.
»Haltet ihn auf!«, rief Caleb.
Ein zischendes Geräusch wie bei einem Blitzeinschlag erklang, und magische Energie sprang aus Magnus’ Hand. Grellblaues Licht beleuchtete für einen Augenblick die Höhlenöffnung und den Strand, und eine Energiekugel raste hinter dem Fliehenden her und holte ihn sofort ein. Der Mann schrie auf und fiel, den Oberkörper in Schmerzen verkrampft, als winzige Energieblitze über seinen Körper zuckten und ein zischelndes Geräusch erklang.
Caleb und Magnus rannten zu dem Gestürzten, während die Jungen und die anderen Agenten des Konklaves die restlichen Attentäter niederrangen.
»Wir kommen raus!«, rief eine vertraute Stimme, und einen Augenblick später trat Chezarul aus der Höhle. »Wie haben wir uns geschlagen?«, fragte er.
Jommy deutete auf den niedergestürzten Mann, als Caleb ihn erreichte und »Licht!« schrie.
Zwei Laternen, eine über ihnen und eine andere einen kurzen Weg den Strand entlang, wurden aufgedeckt, und sie sahen die Gestalt eines Mannes, der sich im Sand wand, als die magische Energie langsam nachließ. Magnus sagte: »Fesselt ihn, bevor ich den Zauber vollkommen auflöse. Im Moment ist er unfähig, Gift zu benutzen, falls er welches an seinem Körper versteckt hat. Durchsucht ihn genau!«
Caleb blickte hinunter zu dem Mann, den er seit Wochen gesucht hatte. Jomo Ketlami wand sich vor Schmerzen, das Gesicht verzerrt. Seine Fäuste schlugen nutzlos in die Luft, die Ellbogen hatte er fest an die Seiten gepresst. Sein Rücken war durchgebogen, und mit den Beinen trat er schwach gegen den Sand. Caleb durchsuchte rasch die Kleidung des Mannes und fand zwei Giftpillen und ein Amulett, das eiserne Nachtgreifer-Abzeichen, das er inzwischen so gut kannte. Er nahm eine Schnur aus dem Gürtelbeutel, drehte den bebenden Mann herum wie einen Hirsch, den er geschossen hatte, und verschnürte ihn auf die gleiche Art.
»Überprüf auch seinen Mund«, bat Magnus.
»Bringt mir ein Licht.«
Eine Laterne wurde geholt und über Ketlamis Gesicht gehalten. Caleb packte den Kiefer seines Gefangenen mit der rechten Hand, zwang seinen Mund auf und winkte, damit jemand die Laterne näher hielt. »Ah, was ist das da?«, sagte er.
Er streckte die linke Hand aus, und einer der Männer reichte ihm eine Eisenzange. Geschickt griff er mit der Zange in Ketlamis Mund und riss einen Zahn heraus. Das Wimmern des Gefangenen wurde lauter, aber ansonsten konnte er sich nicht widersetzen. »Ein hohler Zahn!«, sagte Caleb. Er stand auf und sagte zu Magnus: »Ich denke, du kannst ihn jetzt gehen lassen.«
Magnus hob den Zauber auf, und der Gefangene wurde einen Moment schlaff und hechelte wie ein erschöpfter Hund.
Chezarul, der näher gekommen war, sagte zu Caleb: »Zwei von ihnen sind tot, und ein weiterer wird die Nacht nicht überleben, aber drei andere sind bewusstlos und gefesselt.«
Caleb nickte. »Überprüft sie ebenfalls auf Gift.« Er warf einen Blick zu Jommy. »Du bist verletzt.«
»Hab schon Schlimmeres erlebt«, sagte der junge Mann grinsend. »Als ich das letzte Mal mein Schwert mit Talwin Hawkins kreuzte, hat er mich dreimal geschnitten, und er hat es nicht mal darauf angelegt.«
Caleb warf einen Blick auf die Blutflecken, die sich auf Jommys Hemd ausbreiteten. »Lass dich verbinden, Junge, oder Marie schneidet mir die Ohren ab.«
Jommy zwinkerte Tad und Zane zu, als sie sich den anderen anschlossen, die sich um die Attentäter kümmerten. »Eure Mutter passt gut auf mich auf, wie?«
Tad verzog das Gesicht. »Ich denke, sie hat dich sogar lieber als uns.«
Zane nickte. »Ich schwöre, das entspricht der Wahrheit.«
Jommys Grinsen wurde breiter. »Das liegt daran, dass ihr ihr bereits seit vielen Jahren Ärger macht. Ich tue das erst seit ein paar Monaten. Sie wird schon bald von mir genug haben.«
Magnus warf einen Seitenblick auf den hochgewachsenen, rothaarigen Jungen und sagte: »Zweifellos.« Jommy war auf der Insel des Zauberers schnell sehr beliebt geworden und hatte sich problemlos in Calebs Adoptivfamilie eingepasst. In ein paar schwierigen Situationen hatte er sich als zäh, loyal und willig erwiesen, sein Leben für andere aufs Spiel zu setzen, und er schien niemals den Humor zu verlieren.
Tad warf einen Blick zu Ketlami, der nun reglos dalag, stöhnte und leise fluchte. »Was jetzt?«
»Wir müssen den hier zu Vater bringen«, sagte Caleb. An Chezarul gewandt fuhr er fort: »Bringt die drei Gefangenen in die Stadt und holt aus ihnen heraus, was ihr könnt. Das hier sollten die letzten Nachtgreifer in Durbin gewesen sein, aber nur für den Fall, dass noch ein paar zurückgeblieben sind, wringt jeden Tropfen Wahrheit aus ihnen heraus. Dann kümmert euch darum, dass sie die Welt nicht mehr verseuchen.«
Chezarul nickte und begann, entsprechende Befehle an seine Leute zu geben.
Magnus zog eine Kugel aus der Tasche und sagte: »Jungs, kommt näher.« Er beugte sich direkt über Ketlami, während Caleb nach unten griff, das Hemd des Mannes mit einer und den Saum von Magnus’ Gewand mit der anderen Hand packte. Jommy legte eine Hand auf Magnus’ Schulter, während Tad und Zane sich dicht hinter Caleb stellten.
Magnus drückte einen Schalter an der Kugel, und plötzlich verschwanden sie und ließen Chezarul und seine Leute am ansonsten leeren Strand zurück, um mit einigem Glück die letzten Reste der Nachtgreifer in Durbin und vielleicht auch in ganz Groß-Kesh auszumerzen.

Zwei
Orakel

 

Der Gefangene starrte sie trotzig an.

Jomo Ketlami hing an Handfesseln an der Steinwand. Man hatte ihm die Kleidung weggeschnitten, ihm nicht einmal diese Würde gelassen, aber Pug hatte das für notwendig gehalten, da sein Körper mit geheimnisvollen Zeichen tätowiert war, Symbolen in Schwarz, Weiß, Rot und Gelb, und einige davon waren Schutzzauber.

Er war ein kräftig gebauter Mann. Den drei Jungen hinten im Raum kam er stark genug vor, um vielleicht sogar die Eisenringe aus der Wand zu reißen. Sein Kopf war vollkommen rasiert und glänzte nun von seinem Schweiß. Er hatte den Hals und die Schultern eines Ringers, und sein nackter Oberkörper strotzte vor Muskeln. In seinen dunklen Augen lag keine Angst. Mit gefletschten Zähnen stand er denen gegenüber, die ihn gefangen genommen hatten.

Ein halbes Dutzend Wachen war vor der Tür postiert, und Magnus stand bereit, um magische Eindringlinge abzuwehren, die Ketlami entweder retten oder ihn zum Schweigen bringen wollten. Caleb und die Jungs warteten hinten an der entgegengesetzten Wand, wo sie nicht im Weg waren. Dann traten zwei weitere Männer in den Raum.

Es waren Pug und Nakor.
Magnus fragte: »Wo ist Bek?«
»Draußen, falls ich ihn brauche«, sagte Nakor. »Er

muss das hier nicht sehen.«

Magnus’ Blick zu seinem Bruder enthielt eine lautlose Frage: Aber die Jungen schon? Caleb nickte. Die Jungen hatten bisher ihre Nützlichkeit bewiesen, hatten eiserne Willenskraft gezeigt, wo das notwendig gewesen war, und eine Furchtlosigkeit, die das Kennzeichen der Jugend war, aber erstaunlich schnell einer nüchterneren Einschätzung echter Gefahren wich. Jugendlicher Überschwang verwandelte sich so schnell, dass Magnus und Caleb es beinahe von einem Tag auf den anderen sehen konnten, in echte Tapferkeit. Aber ein Kampf war eine Sache und Folter etwas ganz anderes.

Alle schwiegen einen Moment, dann rief Ketlami Pug zu: »Du kannst mich ebenso gut gleich umbringen, Magier! Mein Schwur bindet mich, die Geheimnisse der Gilde bis in die Halle von LimsKragma zu nehmen!«

Pug schwieg, aber er wandte sich der Tür zu, als zwei weitere Männer hereinkamen. Die Jungen rückten ein Stück nach links und machten den Neuankömmlingen Platz, damit diese direkt auf den Gefangenen zugehen konnten.

Einer der beiden Männer trug eine schwarze Lederkapuze, die sein Gesicht verdeckte, und ein ausgebleichtes Hemd mit alten Flecken. Tad warf seinen beiden Freunden einen Blick zu und wusste sofort, dass auch sie wussten, welcher Art diese Flecken waren. Der Folterknecht stellte sich vor den Gefangenen, während der zweite Mann neben Pug trat.

Er war unauffällig, von mittlerer Größe, ohne auffällige Züge und mit braunem Haar, und er trug Hemd und Hose eines Bauern. Seine Füße steckten in bescheidenen Lederstiefeln. Er starrte den Gefangenen an, der sich plötzlich zu ihm drehte und zurückstarrte. Ketlamis Augen wurden größer.

Einen Moment später schloss er die Augen, und ein Ausdruck des Schmerzes fiel über sein Gesicht. Mehr Schweiß erschien auf seiner Stirn, und er gab ein tierisches Grollen von sich, halb Schmerz, halb Ärger. »Verschwinde aus meinem Kopf!« rief er, und dann lachte er triumphierend. »Du musst es schon besser machen als auf diese Weise!«

Pug warf dem Mann einen fragenden Blick zu. Der Mann sah Pug an, nickte und wandte sich dann wieder Ketlami zu.

Pug sagte: »Fangt an!«, und der Folterknecht machte einen raschen Schritt vorwärts und schlug mit der Faust direkt in Ketlamis Magen. Er trat zurück, als der Gefangene keuchte und ihm Tränen in die Augen traten. Einen Moment später holte Ketlami tief Luft und sagte: »Du schlägst mich? Was kommt als Nächstes? Heiße Eisen und Zangen?«

Der Folterknecht schlug Ketlami erneut, aber diesmal waren es zwei rasche Schläge, und plötzlich entleerte das Opfer seinen Mageninhalt auf den Boden.

Jommys Miene war finster, als er seine Gefährten ansah. Alle drei Jungen waren für den Kampf Mann gegen Mann ausgebildet, und eine frühe Lektion dabei hatte sich um doppelte Schläge gegen den Bauch gedreht. Ein starker Mann konnte einen einzelnen Schlag hinnehmen und sofort weiterkämpfen, aber zwei schnelle Schläge, bei denen der zweite erfolgte, bevor die Muskeln sich vom ersten vollkommen erholen konnten, bewirkten unweigerlich, dass er nach vorn sackte und seine letzte Mahlzeit von sich gab.

Magnus, Caleb, Pug und Nakor sahen unversöhnlich zu, wie Ketlami sich übergab. Diese erste Würdelosigkeit war erst der Beginn davon, den Mann langsam zu zerbrechen und herauszufinden, was sie wissen mussten: den Aufenthaltsort des Großmeisters der Nachtgreifer.

Alle blieben still, als der Folterknecht Ketlami mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. Es war zwar ein heftiger Schlag, aber er bewirkte nichts weiter, als dass dem Gefangenen erneut Tränen in die Augen traten und er noch trotziger wurde. Caleb wandte sich den Jungen zu und flüsterte: »Es wird einige Zeit dauern, bis er wahre Hoffnungslosigkeit verspürt. Er ist ein starker Mann, und noch wichtiger, er ist ein Fanatiker.«

Die drei Jungen standen schweigend da, und ihre finsteren Mienen spiegelten wider, was sie beobachteten. Der Folterknecht ging methodisch und ohne Eile vor. Er schlug den Gefangenen mehrmals, dann hielt er inne, als wollte er Ketlami zu Atem kommen lassen. Er schlug ihm ins Gesicht, auf den Oberkörper und die Beine.

Nach beinahe einer halben Stunde dieser Schläge sackte Jomo Ketlami in seinen Ketten zusammen und konnte nicht mehr stehen. Er schien am Rande der Bewusstlosigkeit zu sein.

»Belebe ihn!«, befahl Pug.

Der Folterknecht nickte und ging zur Ecke des Zimmers, wo sich ein Tisch befand, auf dem eine Reihe von Beuteln und die Werkzeuge seines Handwerks bereitlagen. Er öffnete einen der Beutel und holte einen Gegenstand heraus, eine kleine Phiole. Dann kehrte er zu dem leblosen Ketlami zurück und hielt die Phiole unter das Gesicht des Mannes. Ketlamis Kopf zuckte zurück, und alle hörten sein scharfes Einatmen, gefolgt von einem schwachen Ächzen.

»Wo verbirgt sich dein Meister?«, fragte Pug.

Ketlami hob den Kopf und sah Pug an. Seine Augen waren beide beinahe zugeschwollen, und seine Lippe war gespalten. Er konnte kaum sprechen, so geschwollen war sein Mund, aber er sah den Magier dennoch trotzig an. »Du wirst mich niemals brechen, Magier. Töte mich und bring es hinter dich.«

Pug warf einen Blick auf den Mann, der neben ihm stand. »Macht weiter«, sagte er.
Der Folterknecht steckte die Phiole wieder in den Beutel und stellte sich dann erneut vor den Gefangenen. Ketlami starrte ihn wütend an. Der Mann riss plötzlich sein Knie hoch und versetzte dem Nachtgreifer einen brutalen Tritt zwischen die Beine. Ketlami brach vollkommen zusammen und hing einen Moment nach Luft ringend in seinen Ketten.
Dann gingen die Schläge weiter.

Als die zweite Stunde sich dem Ende näherte, schien Tad selbst kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Bei jedem Schlag zuckte er sichtlich zusammen. Caleb beobachtete seinen Adoptivsohn, dann bedeutete er ihm, den Raum mit ihm zu verlassen. Mit einer Handbewegung wies er Jommy und Zane an zu bleiben.

Vor der Tür, in einem langen Flur mit Wachen zu beiden Seiten, saß Ralan Bek mit dem Rücken an der Wand. Der seltsame, gefährliche junge Mann war Nakors Schutzbefohlener und schien mit seiner derzeitigen Situation recht zufrieden zu sein.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Caleb Tad.

Tad atmete tief ein und ließ die Luft langsam wieder entweichen. »Nicht wirklich«, erwiderte er. »Ich habe ein paar Kämpfe gesehen, wie du weißt, aber das hier …«

»Ist etwas anderes«, beendete sein Stiefvater den Satz.
Tad holte tief Luft. »Ich weiß, was er ist, aber …«
Caleb blickte Tad in die Augen. »Es ist brutal. Es ist böse, und es ist notwendig. Du weißt, was er ist: Er würde dich ohne nachzudenken töten, mich töten, deine Mutter, alle, und dann nachts wie ein Baby schlafen. Er ist dein schlechtes Gewissen nicht wert.«
»Das weiß ich, aber ich fühle mich trotzdem, als …«
Caleb tat plötzlich etwas, was für ihn eher ungewöhnlich war: Er legte die Arme um Tad und zog ihn an sich. »Ich weiß, glaube mir, ich weiß.« Dann ließ er seinen Stiefsohn wieder los. »Etwas geht dadurch verloren, und ich bezweifle, dass irgendeiner von uns es sich wieder verdienen kann. Aber jene, die uns entgegenstehen, wollen denen, die wir lieben, nur Böses, und wir müssen sie aufhalten. Das hier wird noch eine Weile so weitergehen. Wenn wir nicht über gewisse Mittel verfügten, könnte es sogar Tage dauern. Aber dieser Mann wird das, was er weiß, in einer weiteren Stunde oder in zweien verraten. Wenn du willst, kannst du hier draußen bleiben.«
Tad dachte einen Moment darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Eines Tages muss ich so etwas vielleicht selbst tun.«
Caleb nickte, und er wusste, dass sowohl Jommy als auch Zane dieser Aspekt der Lektion entgangen war. »Ja, und das ist vielleicht das Schlimmste.«
Sie kehrten ins Zimmer zurück und sahen, dass der Folterknecht Ketlami erneut belebte. Sie stellten sich wieder neben die anderen, und Zane flüsterte: »Er kann doch nicht viel länger durchhalten, oder?«
Caleb flüsterte zurück: »Du wirst feststellen, dass Menschen erheblich widerstandsfähiger sind, wenn sie an ihre Sache glauben. Dieser Mann ist vollkommen schlecht, er ist ein Tier, aber er glaubt, einer höheren Sache zu dienen, und das bewirkt, dass er sehr schwer zu brechen ist. Sprecht mit Talwin Hawkins«
– und dann erinnerte er sich an die Geschichten seines eigenen Vaters aus dem Arbeitslager – »oder mit eurem Großvater darüber, was Menschen ertragen können. Ich wette, ihr werdet überrascht sein.«
Beinahe eine gesamte weitere Stunde setzte der Folterknecht seine Arbeit fort, dann hielt er plötzlich inne. Er warf Pug ohne ein Wort einen Blick zu, und der Magier nickte. Dann deutete Pug auf den Mann neben sich, der eine nichtssagende Geste machte.
Pug sagte: »Gib ihm Wasser«, und der Folterknecht gehorchte und ließ den Gefangenen lange aus einem Kupferbecher trinken. Das Wasser schien Ketlami ein wenig zu erfrischen, und er spuckte dem Folterknecht ins Gesicht. Der unerbittliche Mann in der schwarzen Kapuze wischte sich einfach nur den Speichel ab und sah Pug erneut an.
Pug fragte wieder: »Wo ist dein Großmeister?«
»Das werde ich euch niemals sagen«, erwiderte Ketlami.
Der Mann neben Pug packte den Unterarm des Magiers. »Ich habe es«, sagte er leise.
»Seid Ihr sicher?«, fragte Nakor.
»Ich bin sicher«, erwiderte der Mann.
Pug holte tief Luft, dann sah er Ketlami an, dessen verzerrte Züge die Bosheit seiner Miene nicht verbergen konnten. Leise sagte er: »Bring es zu Ende.«
Mit einer raschen Bewegung nahm der Folterknecht eine scharfe Klinge von seinem Gürtel und vollführte einen einzigen senkrechten Schnitt, womit er eine Arterie durchtrennte, die Blut in die Luft sprudeln ließ. Ketlamis Augen wurden einen Moment vor Schreck größer. »Was …«
Dann füllte sich sein Mund mit Blut, und sein Kopf fiel nach vorn.
Nakor wandte sich den drei Jungen zu. »Wenn man den Blutfluss zum Kopf durchtrennt, verliert er das Bewusstsein, noch bevor er versteht, dass man ihn geschnitten hat. Es sieht aus wie die Arbeit eines Metzgers, aber es ist sanfter als alle anderen Schnitte, die ich kenne.«
Jommy flüsterte: »Sanft oder nicht, tot ist tot.«
Pug bedeutete allen zu gehen, und der Folterknecht begann, Ketlamis Leiche von den Fesseln zu lösen.
Als Bek sah, dass sie das Zimmer verließen, stand er auf und sagte zu Nakor: »Können wir jetzt gehen? Ich langweile mich.«
Nakor nickte. »Wir werden bald schon blutige Arbeit zu tun bekommen.« Er wandte sich Pug zu. »Wir treffen uns oben«, sagte er und führte Bek weg.
Der Raum, in dem die Folter stattgefunden hatte, befand sich im Keller von einem von Chezaruls Lagerhäusern am Rand der Stadt Kesh. Der nun tote Nachtgreifer war von Magnus hierhertransportiert worden, trotz der Gefahr, dass sich noch weitere Agenten in Durbin befanden. Sie waren zwar beinahe sicher, dass das Konklave die Nachtgreifer in GroßKesh vernichtet hatte, aber beinahe sicher war nicht vollkommen sicher.
Pug wandte sich dem Mann zu, der neben ihm stand, und fragte: »Wo?«
»Burg Cavell.«
Pugs Miene wurde nachdenklich, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. »Ja, ich entsinne mich«, sagte er schließlich. »Danke«, fügte er an den Mann gewandt hinzu und bedeutete ihm und den Wachen zu gehen. Einen Augenblick später blieben nur er, Magnus, Caleb und die Jungen im Flur zurück.
»Wer war dieser Mann, Vater?«, fragte Caleb.
»Jovan Delan. Er gehört zwar nicht zu unserer Gemeinschaft, aber er ist dem Konklave etwas schuldig. Er ist der beste menschliche Gedankenleser, den ich kenne, aber statt seine Fähigkeiten in den Dienst einer Sache zu stellen, verbirgt er sie, außer, wenn er sie um des Profits willen einsetzt.« Er warf dem Mann, der den Flur entlangging, einen Blick hinterher. »Eine Schande. Er könnte uns so viel beibringen. Er wusste, dass Ketlami über starke Schutzzauber verfügte, die verhindern sollten, dass seine Gedanken gelesen werden, sich aber schließlich nicht davon abhalten konnte, an das zu denken, was er verbergen wollte.« Mit einem Blick zu den drei Jungen sagte er: »Das war der Grund für die Schläge. Erinnert ihr euch an das Kinderspiel, in dem man sagt: ›Denk nicht an den Drachen in der Ecke‹? Man kann sich lange Zeit dazu zwingen, nicht an etwas Bestimmtes zu denken, wenn man entsprechend ausgebildet ist und über die entsprechenden geistigen und körperlichen Fähigkeiten verfügt, aber wenn man zerschlagen genug ist, tritt das, was man verbergen möchte, irgendwann an die Oberfläche des Geistes.« Er wandte sich an seinen Sohn. »Und deshalb wissen wir jetzt, dass sich der Großmeister der Nachtgreifer in der Burg Cavell versteckt.«
»Burg Cavell?«, fragte Caleb. »Ich kenne eine Stadt namens Cavell, nördlich von Lyton, aber eine Burg?«
»Sie ist verlassen«, erwiderte Pug. »Hoch in den Hügeln über der Straße. Aus der Ferne verschwimmt sie mit den Felsen; sie ist von der Straße oder dem Fluss aus nur zu sehen, wenn man wirklich danach Ausschau hält. Der Weg führt über einen Hang von der Siedlung aus. Man muss sie wirklich finden wollen. Der letzte Baron Corvallis weigerte sich, dort zu wohnen … eine lange Geschichte. Ich erzähle es euch ein andermal, aber ich weiß, dass die alte Burg einen großen Teil der Handelsstraße zwischen Lyton und Sloop bewachte. Die Tochter von Baron Corvallis heiratete einen Mann aus Lyton, einen Bürgerlichen, glaube ich, und der König ließ den Titel auslaufen. Man gab dem Earl von Sloop diesen Bereich, obwohl er näher an Lyton liegt. Wie auch immer, die alte Burg war schon einmal in Aktivitäten der Nachtgreifer verwickelt, vor beinahe einem Jahrhundert, und es waren einer meiner Schüler, Owyn Belfote, und Prinz Aruthas Mann James, die dieser Gefahr für die Region ein Ende machten.«
Pug tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn und dachte einen Moment nach. »Sie sind anscheinend zu dem Schluss gekommen, dass genug Zeit vergangen ist, um den Ort wieder zu verwenden, und es ist eine kluge Wahl: Niemand geht mehr dorthin, nicht einmal die Dorfbewohner, weil sie abergläubisch sind, und es ist außerdem ohnehin ein unbehaglicher Ort. Solange die Leute glauben, die Burg sei verlassen, warum sollten sie sich dorthin bemühen?«
»Wir gehen also nach Lyton?«, fragte Caleb.
»Nein«, sagte Pug. »Das überlasse ich Nakor. Er steht Herzog Erik nahe, und das Königreich soll sich selbst um diese letzte Konfrontation kümmern.« Er warf einen Blick zu Magnus. »Aber ich schicke dich zusammen mit Nakor hin, um dafür zu sorgen, dass Erik wirklich genügend Schutz vor aller Magie hat, die die Nachtgreifer immer noch aufbringen könnten, und du weißt, dass ich nur Augenblicke weit weg bin, wenn ihr mich braucht. Ich werde eure Mutter bitten, die Versammlung zu besuchen und zu sehen, welche Fortschritte sie mit dem Talnoy erreicht haben.«
Magnus nickte und lächelte trocken. »Wir wissen, wie sehr die Erhabenen des Kaiserreichs das genießen werden.«
Pug lächelte – es war das erste Mal seit Tagen, dass er nicht finster dreinblickte. Es lag Heiterkeit in seinem Tonfall, als er sagte: »Sie haben immer noch Probleme mit weiblichen Magiern, aber eure Mutter … ich werde ihr sagen, sie soll auf ihre Manieren achten.«
Magnus’ Grinsen wurde breiter. »Und Mutter hat wann begonnen zu tun, was du ihr sagst?« Pugs Miene zeigte, dass die kleine Bosheit seines Sohnes ihr Ziel erreicht hatte. »Soll ich Nakor Bescheid geben, damit er sich bereithält?«
»Nakor ist immer bereit aufzubrechen; das ist ein Überbleibsel aus seinen Spielertagen. Wir treffen uns in ein paar Minuten oben. Ich möchte noch kurz mit Caleb und den Jungs sprechen.«
Magnus ging, und Pug wandte sich den Jungen zu. »Das war blutige Arbeit«, sagte er.
Jommy warf einen Blick zu Tad und Zane. »Ja, aber er hat es verdient.«
Pug legte die Hand auf Jommys Schulter. Er war zwar kein offiziell adoptierter Enkel wie Tad und Zane, aber Pug hatte den dreisten Rothaarigen liebgewonnen und behandelte ihn wie die anderen. »Niemand verdient es, gefoltert zu werden, Jommy.« Er warf einen Blick zu Zane und Tad, dann wandte er sich wieder Jommy zu. »Es gibt Menschen, die den Tod für das verdient haben, was sie getan haben, aber Leiden zu verursachen, fügt einem selbst mehr Schaden zu als dem, den man leiden lässt.« Er blickte von einem zum anderen. »Es gibt allerdings eines, was uns besser macht als die, denen wir entgegenstehen: Wir wissen, dass wir etwas Böses tun. Und es sollte uns anwidern. Selbst wenn wir es rechtfertigen, indem wir sagen, dass es dem großen Ganzen dient oder dass es notwendig ist.« Er blickte zur Tür, wo der Folterknecht dabei war, Ketlamis Leiche wegzuschaffen, und fügte hinzu: »Das ist der Preis, den wir zahlen, und es mag zwar notwendig sein, aber es nimmt uns etwas.« Noch einmal sah er die Jungen nacheinander an. »Euer einziger Trost besteht darin zu wissen, dass die, die ihr liebt, in noch größerer Gefahr wären, wenn ihr keinen Anteil an dieser Sache hättet.«
Dann wandte er sich Caleb zu. »Ich denke, du und Marie, ihr hattet seit eurer Hochzeit nicht viel Zeit miteinander.«
Caleb lächelte bedauernd. »Eine Tatsache, an die sie mich von Zeit zu Zeit erinnert hat, obwohl sie sich kaum beschwert, Vater.«
»Die Dinge sind für eine Weile unter Kontrolle. Kaspar, Rosenvar und Jacob befinden sich unten in Novindus, und Nakor und Magnus werden ins Königreich gehen, um sich um die Nachtgreifer zu kümmern. Im Augenblick brauchen wir dich nicht.«
Caleb sah seinen Vater fragend an. »Und?«
»Warum gehst du nicht nach Hause und lässt dir von deiner Mutter die Kugel geben, die wir benutzen, wenn wir zu unserer kleinen Zuflucht reisen? Es ist nicht viel – eine Insel im Sonnenuntergang –, aber es gibt eine kleine Hütte, die gut ausgestattet ist und in der ihr ein paar Tage allein sein könnt.«
»Das klingt wunderbar. Was wird aus diesen dreien?«
Pug lächelte. »Schick sie zu Talwin. Sie können Gäste in seinem Haus am Fluss sein, sich ein oder zwei Wochen ihren Unterhalt verdienen und ihre Schwertarbeit verbessern.«
Zane grinste. »Das Haus am Fluss!«
Jommy tätschelte den Bauch seines Freundes. »Ich dachte, du wolltest das hier loswerden?« Das Haus am Fluss war das beste Gasthaus in Opardum und wahrscheinlich das beste Restaurant auf der ganzen Welt. Zane hatte großes Interesse an gutem Essen entwickelt, seit seine Mutter Caleb geheiratet hatte und er Gelegenheit erhielt, etwas Besseres zu versuchen als das, was er als Kind gekannt hatte.
»Ich werde besonders schwer arbeiten, glaub mir«, erwiderte der leicht untersetzte junge Mann.
»Ich bin sicher, Talwin und seine Frau werden genügend Arbeit für euch finden.«
»Und was wirst du tun, Vater?«, fragte Caleb.
»Es gibt eine Reise, die ich unternehmen muss. Sie ist nur kurz, aber ich hätte es schon lange tun sollen. Sag deiner Mutter, ich werde in ein oder zwei Tagen wieder zu Hause sein, aber sie soll nicht auf mich warten; sie soll nach Kelewan gehen und nachsehen, was die Versammlung mit dem Talnoy anfängt.«
Sie umarmten sich, dann winkte Pug den vieren zum Abschied zu und verschwand.
Jommy schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Ich glaube, ich werde mich nie daran gewöhnen, dass Leute einfach so verschwinden!«
Caleb lachte. »Du wirst dich noch an vieles gewöhnen, mein Junge.« Er zog eine Kugel aus dem Hemd. »Wir machen uns also auf den Heimweg, und dann geht ihr drei nach Olasko.«
Mit einem Blick zur Tür des Folterraums sagte Tad: »Ich bin jedenfalls froh, dass wir diesen Teil hinter uns haben.«
Ohne ein weiteres Wort legten alle die Hand auf die Schulter desjenigen, der ihnen am nächsten stand, Caleb aktivierte die Kugel, und dann verschwanden sie ebenfalls.

Eine gewaltige Präsenz war in Dunkelheit verschleiert, ihre Gestalt kaum wahrnehmbar in dem schwachen Licht einer einzelnen Laterne an einem Halter an der gegenüberliegenden Wand.

Eine Stimme sagte ohne einen Laut: Willkommen, Pug von Crydee.
Pug lächelte, als er erwiderte: »Seit Jahren hat man mich nicht mehr so genannt, meine Dame.« Er wusste, die Präsenz brauchte keine Anreden, und die, zu der er sich entschlossen hatte, war kaum angemessen, aber er spürte die Notwendigkeit, respektvoll zu sein.
»Wie Ihr wünscht, Magier«, sagte die tiefe Stimme. »Wollt Ihr mehr Licht?«
»Das wäre angenehm«, erwiderte Pug.
Plötzlich war es gleißend hell im Raum, als schiene die Sonne durch Glaswände. Pug sah sich um, denn er war lange nicht mehr in diesem Raum gewesen. Es war eine Höhle tief unter der Stadt Sethanon, wo Tomas gegen eine Beschwörung des Drachenlords Drakin-Korin gekämpft und Pug und andere sich bemüht hatten, den Spalt zu schließen, der drohte, das Königreich und vielleicht auch die ganze Welt Midkemia zu vernichten.
Das Wesen vor ihm hatte den Körper des großen Drachen Ryath, aber der Geist darin war der eines viel älteren Wesens, des Orakels von Aal. In jener epischen Auseinandersetzung hatte der Drache alles gegeben, um einen Schreckenslord zu besiegen, und es hatte Magie von unübertroffener Kraft und Kunstfertigkeit gebraucht, um einen Funken Leben in dem Körper zu erhalten, nachdem Verstand und Geist dahingegangen waren, sodass das Orakel einen lebenden Körper vorfand. Die natürlichen Schuppen des Drachen waren zerstört worden, und eine Übergangslösung hatte das Geschöpf in ein Wesen unglaublicher Großartigkeit verwandelt. Der gewaltige Schatz der Drachenlords, der Zeitalter zuvor unter der Stadt versteckt worden war, hatte die Edelsteine geliefert, um beschädigte Schuppen zu reparieren, und ein Geschöpf geschaffen, mit dem es nichts auf dieser Welt an Erhabenheit und Macht aufnehmen konnte, einen großen Edelsteindrachen. Licht tanzte auf den Facetten von tausenden von Steinen, und das Geschöpf schien zu glitzern, als bewege es sich, selbst wenn es reglos ruhte.
»Der Erneuerungszyklus ist gut verlaufen?«, fragte Pug.
»Ja, der Zyklus von Jahren ist vergangen, und ich verfüge wieder über mein gesamtes Wissen.« Sie gab einen geistigen Ruf von sich, und ein Dutzend Männer in weißen Gewändern betrat den Raum. »Dies sind meine Gefährten.«
Pug nickte. Diese Männer hatten gelernt, das Wesen des großen Drachen von Sethanon zu verstehen, und sich freiwillig gemeldet, um ihre Freiheit im Austausch gegen eine Lebensspanne zu geben, die viele Male den normalen Umfang betrug, und für die Ehre, einem größeren Gott zu dienen.
Denn das Orakel war mehr als nur eine Seherin. Es verfügte über die Fähigkeit, viele mögliche Ereignisse zu sehen, die aus einer bestimmten Entscheidung entstanden, und jene, denen es vertraute, vor dem Nahen großer Gefahr zu warnen. Und es vertraute niemandem auf dieser Welt so sehr wie Pug. Ohne die Arbeit des Magiers wäre die Letzte des Volkes von Aal – vielleicht das älteste Volk im Universum – vor einem Jahrhundert gestorben. Pug nickte den Gefährten des Orakels zu, und sie erwiderten die Ehre.
»Wisst Ihr, wieso ich hier bin?«, fragte Pug.
»Große Gefahr nähert sich schneller, als Ihr glaubt, aber …«
»Was?«, fragte Pug.
»Es ist nicht das, was Ihr glaubt.«
»Die Dasati?«
»Sie haben damit zu tun und sind im Augenblick der erste Anlass, aber auf sie folgt viel größere Gefahr.«
»Der Namenlose?«
»Mehr.«
Pug war sprachlos. Aus seiner Perspektive konnte es nicht »mehr« im Universum geben als die größeren Götter. Er riss sich zusammen. »Wie kann es eine größere Gefahr geben als den Namenlosen?«
»Ich kann Euch nur eines sagen, Pug von Crydee: Über die Weite von Zeit und Raum hinweg verwandelt der Kampf zwischen Gut und Böse alles andere. Was Ihr wahrnehmt, ist nur der kleinste Teil dieses Kampfes. Er ist alterslos; er hat bereits begonnen, bevor die ersten Aal aus dem Schlamm ihrer Heimatwelt aufstiegen, und er wird andauern, bis der letzte Stern erlischt. Er gehört zum Wesen der Realität, und alle Geschöpfe sind Teil dieses Kampfes, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Einige Wesen verbringen ihr ganzes Leben in Frieden und Sicherheit, während andere ohne Unterbrechung kämpfen. Einige Welten sind beinahe Paradiese, während andere endloses Elend schaffen. Jede ist auf ihre Art Teil eines viel größeren Gleichgewichts, und daher ist jede wichtige Schlacht Teil dieses Kampfes. Viele Welten sind im Gleichgewicht.« Das Orakel hielt einen Moment inne, dann sagte es: »Einige befinden sich am Rand desselben.«
»Midkemia?«
Der große Drachenkopf nickte. »Euer Leben ist lang, verglichen mit dem anderer Sterblicher, aber in diesem Kampf geschieht, was aus dieser Welt werden wird, innerhalb eines Blinzelns eines Gottes. Midkemia hat zu lange ohne den Einfluss der Göttin des Guten existiert. Was Ihr und Euer Konklave begonnen habt, hat die Anstrengungen des Namenlosen für mehr als ein Jahrhundert zurückgehalten. Aber er schläft, und seine Schergen sind nichts als Träume und Erinnerungen, machtvoll nach Eurem Maßstab, aber nichts verglichen mit dem, was der Welt bevorsteht, sollte er erwachen.«
»Erwacht er?«
»Nein, aber seine Träume sind fiebriger geworden, und seine Sache wird nun von einem anderen aufgenommen, einem Wesen, das noch mächtiger und tödlicher ist.«
Pug war verblüfft. Er konnte sich kein Wesen vorstellen, das mächtiger und tödlicher sein sollte als der Gott des Bösen. »Was für ein Wesen könnte denn …« Er brachte die Frage nicht zu Ende.
»Der Dunkle Gott der Dasati«, sagte das Orakel.

Pug erschien in seinem Arbeitszimmer. Er sah sich rasch um, um sich zu überzeugen, dass er wirklich allein war, denn seine Frau rollte sich oft in der Ecke zusammen, um in Frieden lesen zu können, wenn er weg war. Die Worte des Orakels hatten ihn erschüttert. Er hatte sich für einen Mann von Erfahrung gehalten, einen, der schrecklichen Ereignissen gegenübergestanden und sie überlebt hatte, einen, der unendliches Entsetzen gesehen und ertragen hatte, einen, der dem Tod in seiner eigenen Halle gegenübergestanden hatte und ins Reich der Lebenden zurückgekehrt war. Aber dies ging über sein Begreifen hinaus, und er fühlte sich überwältigt. Mehr als alles andere wünschte er sich in diesem Augenblick, sich an einen ruhigen Ort zurückziehen und eine Woche schlafen zu können. Aber er wusste, solche Empfindungen waren nur das Ergebnis des Schocks, den er erlitten hatte, und würden vergehen, sobald er sich den näherliegenden Fragen widmete. Ah, aber das war genau das Problem: Wo sollte er anfangen? Mit Schwierigkeiten so immens, wie sie dem Konklave jetzt bevorstanden, fühlte er sich wie ein Baby, das man bat, mit seinen winzigen Händen einen Berg zu versetzen.

Er ging zu einem Schrank in der Ecke und öffnete ihn. Drinnen befanden sich mehrere Flaschen, darunter ein starkes Getränk, das Caleb ihm im Jahr zuvor gebracht hatte: Kinnoch-Whisky. Pug hatte das Zeug liebgewonnen. Er besaß auch ein paar Kristallbecher, die ihm der Kaiser von Kesh vor kurzem geschenkt hatte, und er goss sich ein kleines Glas voll ein.

Als er das scharfe, aber dennoch wohlschmeckende Getränk genoss, spürte er, wie sich Wärme in seinem Mund und seiner Kehle ausbreitete. Er schloss den Schrank wieder und ging zu einer großen Holzschachtel, die auf einem Bücherschrank stand. Es war ein schlichter Entwurf, aber wunderbar geschnitzt, Akazienholz mit Zapfen und Leim, ohne einen einzigen Nagel gefertigt. Pug schob sein Getränk beiseite, hob den Deckel, legte ihn weg und schaute in die Schachtel, die ein einzelnes Stück Pergament enthielt.

Er seufzte. Er hatte erwartet, es dort zu finden. Die Schachtel war eines Morgens erschienen, schon Vorjahren, und hatte auf seinem Schreibtisch in Stardock gestanden. Sie hatte Schutzzauber gehabt, aber was ihn mehr überrascht hatte, war, dass er diese Zauber so schnell erkannte. Es war, als hätte er selbst diese Schachtel geschützt. Er befürchtete eine Falle und hatte sich und die Schachtel ein großes Stück von der Insel wegtransportiert, und dann hatte er sie ohne Probleme geöffnet. Drei Zettel hatten darin gelegen.

Auf dem ersten hatte gestanden: »Das war eine Menge Arbeit für nichts, wie?«
Auf dem zweiten stand: »Wenn James sich verabschiedet, weise ihn an, einem Mann, dem er begegnen wird, ›Es gibt keine Magie‹ zu sagen.«
Und auf der dritten stand: »Und wichtiger als alles andere: Verliere diese Schachtel nicht.«
Die Schrift war seine eigene gewesen.
Jahrelang hatte Pug die Schachtel geheim gehalten, die es ihm gestattete, sich selbst Nachrichten aus der Zukunft zu schicken. Hin und wieder hatte er über die Schachtel nachgedacht und sie in freien Momenten studiert, denn er wusste, dass er irgendwann ihr Geheimnis ergründen musste. Es konnte keine andere Erklärung geben, als dass er sich selbst Botschaften schickte.
Acht Mal hatte er in den vergangenen Jahren die Schachtel geöffnet und eine neue Botschaft darin gefunden. Er wusste nicht, wie er es wusste, aber wenn eine neue Nachricht eintraf, spürte er, dass es Zeit war, die Schachtel wieder zu öffnen.
Eine Botschaft hatte gelautet: »Vertraue Miranda.« Sie war eingetroffen, noch bevor er seine Frau kennen gelernt hatte, und als er ihr zum ersten Mal begegnet war, erkannte er, wieso er sich die Botschaft geschickt hatte. Miranda war gefährlich, mächtig und eigensinnig und hatte damals eine unbekannte Größe für ihn dargestellt.
Selbst jetzt vertraute er ihr noch nicht vollkommen. Er traute ihrer Liebe zu ihm und ihren Söhnen und ihrer Ergebenheit an ihre gemeinsame Sache. Aber sie hatte häufig ihre eigenen Pläne, ignorierte seine Führerschaft und nahm die Dinge selbst in die Hand. Seit Jahren verfügte sie über Agenten, die zusätzlich zu denen arbeiteten, die das Konklave einsetzte. Sie und Pug hatten im Lauf der Jahre ein paar hitzige Auseinandersetzungen gehabt, und mehrmals hatte sie zugestimmt, ihre Anstrengungen auf die Ziele und Strategien zu beschränken, auf die das Konklave sich geeinigt hatte, aber es gelang ihr trotzdem immer zu tun, was sie wollte.
Er zögerte. Was auf dem Pergament stand, war etwas, was er wissen musste, aber auch etwas, was er sich zu wissen fürchtete. Nakor war der Erste, dem er von den Botschaften aus der Zukunft erzählt hatte – erst im vergangenen Jahr –, aber die Schachtel selbst war immer noch allein Pug bekannt. Miranda hielt sie für einen einfachen dekorativen Gegenstand.
Als er begann, das Pergament zu entrollen, fragte sich der Magier – und nicht zum ersten Mal –, ob diese Botschaften dafür sorgen sollten, dass eine bestimmte Sache passierte, oder eher dazu dienten, etwas Schreckliches zu verhindern. Vielleicht konnte man das ohnehin nicht unterscheiden.
Er warf einen Blick auf das Pergament. Zwei Zeilen in seiner eigenen Handschrift. Die erste besagte: »Nimm Nakor, Magnus und Bek mit, niemand anderen.« Die zweite lautete: »Geh nach Kosridi, dann nach Omadrabar.«
Pug schloss die Schachtel, nahm das Pergament und las die Nachricht noch mehrmals, als könnte er eine tiefere Bedeutung hinter diesen beiden schlichten Zeilen finden. Dann lehnte er sich zurück und trank einen Schluck. Kosridi erkannte er als den Namen der Welt, die Kaspar von Olasko von dem Gott Banath gezeigt worden war; sie gehörte zu den Planeten, auf denen die Dasati lebten. Wo Omadrabar war, wusste er nicht. Aber er wusste eins: Irgendwie musste er einen Weg auf die zweite Existenzebene finden – auf eine Ebene der Wirklichkeit, auf die sich, soweit er wusste, keiner aus seiner Wirklichkeit je gewagt hatte. Von dort aus würden er und seine Gefährten irgendwie zu der Dasati-Welt Kosridi gelangen, und von dort zu diesem Omadrabar. Und wenn er sonst nichts wusste, so war er doch sicher, dass es sich bei Omadrabar um den gefährlichsten Ort handelte, den er je aufsuchen würde.

Drei
Nachspiel

 

Kaspar zügelte sein Pferd.

Er schob seine Sorgen einen Augenblick beiseite. Das hier war ein schwieriges Land, und er fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, was ihn erwarten würde. Er hatte den kleinen Bauernhof Monate nach Beginn seines Exils in diesem Land als so etwas wie sein Zuhause betrachtet, und Jojanna und ihr Sohn Jörgen waren einer Art Familie für ihn näher gekommen als jeder andere.

Es brauchte nicht mehr als einen Blick, um festzustellen, dass der Hof seit einiger Zeit nicht mehr bewohnt war. Die Wiesen waren überwachsen, und der Zaun war an einigen Stellen umgefallen. Vor dem Verschwinden von Jojannas Mann Bandamin hatten sie für den örtlichen Gasthausbesitzer ein paar junge Ochsen aufgezogen. Nun waren das Maisfeld und das kleine Weizenfeld voller Unkraut, und die Ernte war mehr als überreif.

Kaspar stieg ab und band sein Pferd an einen toten Schössling. Das Bäumchen war nach seiner Abreise gepflanzt worden, aber seitdem aufgrund von Vernachlässigung eingegangen. Er blickte sich aus Gewohnheit um: Wann immer er Ärger vermutete, sah er sich stets um und merkte sich mögliche Orte für Hinterhalte und eine Flucht. Er erkannte, dass es innerhalb eines Tagesmarschs in alle Richtungen wahrscheinlich kein lebendes Wesen gab.

Als er die Hütte betrat, war er erleichtert, dort kein Anzeichen von Kampf oder Gewaltanwendung vorzufinden. Jojannas und Jorgens persönliche Habe, so gering sie gewesen war, war verschwunden. Sie waren in aller Ruhe aufgebrochen. Er hatte befürchtet, dass Banditen oder umherziehende Nomaden ihnen etwas angetan haben könnten. Seinen … was? Seinen Freunden?

Kaspar hatte ein Leben voller Privilegien und Macht geführt, und viele Menschen hatten ihn aufgesucht und um Gefallen oder um Schutz gebeten, oder sie hatten einen anderen Vorteil gesucht, und bis er von Magnus in diesem fernen Land abgesetzt worden war, hatte der ehemalige Herzog von Olasko nur wenige gehabt, die er als »Freund« bezeichnen konnte.

Er hatte Jojanna und Jörgen zwei Tage lang Angst und Schrecken eingejagt, bevor er ihnen verständlich machen konnte, dass er nicht zu diesem kleinen Hof gekommen war, um ihnen wehzutun – er war nur ein Fremder, der Essen und eine Unterkunft brauchte, und er arbeitete schwer, um dafür zu bezahlen. Er hatte ihnen einen günstigeren Handel mit einem Kaufmann ausgearbeitet und sie in einer besseren Situation als zuvor zurückgelassen. Als er aufbrach, um seinen langen Weg nach Hause zu beginnen, hatte er sie für Freunde gehalten, vielleicht sogar mehr als Freunde …

Nun, drei Jahre später, war Kaspar wieder in Novindus. Er hatte das geheime Versteck der Talnoy bewacht und als Schwert gegen die alltäglicheren Gefahren für die zehntausend offenbar schlafenden Tötungsmaschinen gedient – wenn Maschinen denn tatsächlich schliefen. Zwei Magier, ein älterer Mann namens Rosenvar und ein junger Mann namens Jacob, untersuchten den einen oder anderen Aspekt des Wesens der Talnoy und folgten dabei Anweisungen, die Pug und Nakor zurückgelassen hatten.

Nakor war kurz mit seinem Begleiter Bek zurückgekehrt und hatte die Magier informiert, dass er sich für längere Zeit nicht seinem bevorzugten Unternehmen, eine sichere Möglichkeit für die Kontrolle der Armee von Talnoy zu finden, würde widmen können. Kaspar fand den magischen Aspekt dieser Diskussionen nervtötend, aber er hatte nur zu gern von der bevorstehenden Auslöschung der Nachtgreifer gehört.

Als Nakor sich auf den Aufbruch vorbereitete, hatte Kaspar ihn gebeten, einen anderen Wächter für die beiden Gelehrten anzufordern, da es eine persönliche Angelegenheit gab, um die er sich kümmern wollte, bevor er aus Novindus wieder zur Insel des Zauberers zurückkehrte. Nakor hatte zugestimmt, und sobald ein anderer als Wache für die Magier abgestellt worden war, hatte Kaspar seinen Weg nach Süden begonnen.

Er verfügte nicht über die magischen Geräte, die einige andere Mitglieder des Konklaves benutzten, und musste eine Reise von zwei Wochen in Kauf nehmen. Die der Höhle mit den Talnoy am nächsten gelegene Siedlung war Malabra, und von dort aus war die Straße nach Süden stärker bereist. Er ritt seine Pferde beinahe bis zur Erschöpfung und tauschte zweimal in Städten am Weg Reittiere ein. Zweimal musste er Banditen entkommen, und dreimal hatte er die kritischen Blicke örtlicher Soldaten ertragen. Zwei der Begegnungen hatten in Bestechung geendet.

Nun empfand er ein Gefühl von Vergeblichkeit. Er hatte gehofft, Jojanna und Jörgen zu finden, obwohl er selbst nicht so recht wusste, was er eigentlich tun wollte, sobald er sie gefunden hatte. Man hatte ihn zur Strafe wegen seines Anteils an der Vernichtung des Volks der Orosini und seiner Intrigen gegen die Nachbarländer nach Novindus geschickt.

Er hatte in den Augen seiner ehemaligen Feinde einiges wiedergutgemacht, indem er dem Konklave Nachricht von dem Talnoy brachte, und schließlich hatten sie ihm vollkommen verziehen, nachdem er eine wichtige Rolle bei der Vereitelung der Pläne der Nachtgreifer gegen den Thron des Kaiserreichs von Groß-Kesh gespielt hatte. Aber er fühlte immer noch eine Verpflichtung gegenüber Jojanna und Jörgen, und für Kaspar war eine nicht bezahlte Schuld wie ein Geschwür, das sich immer mehr entzündete. Er wollte dafür sorgen, dass die beiden in Sicherheit waren, und ihnen genug Geld hinterlassen, um den Rest ihres Lebens in Wohlstand zu verbringen.

Die kleine Börse, die er bei sich trug, machte ihn in diesem Land zu einem wohlhabenden Mann. Er war schon zuvor im Osten unterwegs gewesen, zu Fuß und mit dem Wagen, und er hatte gesehen, wie es hier nach dem großen Krieg gegen die Smaragdkönigin aussah. Das Land hatte selbst dreißig Jahre nach dem Krieg noch Mühe, sich zu erholen. Kupfermünzen waren selten, Silber sah man so gut wie nie, und eine einzelne Goldmünze war das Leben eines Mannes wert. Kaspar trug genug Gold bei sich, um eine kleine Armee anzuwerben und sich als örtlicher Adliger niederzulassen.

Er verließ die Hütte und dachte darüber nach, was er als Nächstes tun würde. Er war direkt durch das Dorf Heslagnam geritten, als er zum Hof gekommen war, und es lag auf seinem Weg zurück zur TalnoyHöhle. Er würde es nach Sonnenuntergang erreichen – bei seinem ersten Weg vom Hof dorthin hatten sie zwei Tage und einen halben Morgen gebraucht –, und das örtliche Gasthaus war zwar nicht bemerkenswert, aber brauchbar, und er hatte in den letzten drei Jahren an erheblich schlimmeren Orten geschlafen.

Er holte so viel wie möglich aus seinem Pferd heraus und traf kurz nach Einbruch der Dunkelheit in Heslagnam ein. Das halb verfallene Gasthaus war, wie er es in Erinnerung hatte, obwohl es wirkte, als wäre es neu gekalkt worden; im Dunkeln ließ sich das schwer sagen.

Als niemand erschien, nachdem er in den Stallhof geritten war, nahm er seinem Pferd selbst Zaumzeug und Sattel ab und rieb es trocken. Als er damit fertig war, war er müde, gereizt und brauchte unbedingt, was in diesem Teil der Welt als etwas zu trinken durchging.

Er marschierte um das Gasthaus herum zur Vordertür und schob sie auf. Im Schankraum saßen nur zwei Dorfbewohner an einem Tisch vor der Feuerstelle, und der Besitzer des Gasthauses, ein stiernackiger Mann namens Sagrin, stand hinter der Theke. Kaspar ging auf den Mann zu, der ihn genau beobachtete.

»Ich vergesse nie ein Gesicht«, sagte Sagrin, »auch wenn ich mich nicht an einen Namen erinnern kann, und ich habe Euch schon einmal gesehen.«

»Kaspar«, sagte der ehemalige Herzog und zog die Handschuhe aus. »Ich habe ein Pferd hinten. Wo ist Euer Diener?«

»Hab keinen«, antwortete Sagrin. »Keine Jungen mehr in der Stadt. Alle abgeholt, um im Krieg zu dienen.«

»Welchem Krieg?«
»Wer weiß? Es gibt doch immer einen, oder nicht?« Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung des Stallhofs. »Ihr könnt das Pferd umsonst in den Stall bringen, da ich niemanden habe, der sich darum kümmert, aber Ihr müsst morgen früh selbst das Futter in Kelpitas Laden gegenüber kaufen.«
»Ich habe Hafer dabei. Ich kümmere mich um das Tier, bevor ich mich hinlege. Was habt Ihr zu trinken?«
»Bier und Wein. Wer den Wein kennt, nimmt das Bier«, sagte der Wirt.
»Also Bier.«
Das Bier wurde vor ihn hingestellt, und Sagrin musterte Kaspar noch einmal mit zusammengekniffenen Augen. »Ihr wart hier, nicht wahr? Vor etwa zwei Jahren?«
»Eher drei.«
»Ich kann es nicht genau sagen …«
»Wenn Ihr Euch auf den Boden setzt und zu mir aufblickt, erinnert Ihr Euch vielleicht«, erwiderte Kaspar. Er trank einen Schluck. Das Bier war, wie er es in Erinnerung hatte, dünn und nicht sonderlich zu empfehlen, aber kühl und feucht.
»Ah«, sagte Sagrin. »Ihr seid der Kerl, der mit Jojanna und ihrem Jungen kam. Seid dieser Tage ein bisschen besser angezogen.«
»Genau«, erwiderte Kaspar. »Sind sie in der Gegend?«
Sagrin zuckte die Achseln. »Hab Jojanna seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.« Er beugte sich vor. »Der Junge rannte davon, und sie ist beinahe durchgedreht und hat sich auf die Suche nach ihm gemacht. Hat ihr Vieh und das Maultier an Kelpita verkauft und dann einen Händler gefunden, der nach Süden zog – er sagte, er nimmt sie gegen eine Gebühr mit.« Sagrin zuckte die Achseln, aber sein Tonfall klang bedauernd. »Sie ist wahrscheinlich einen Tag südlich von hier unter ein paar Steinen begraben.«
»Jörgen ist davongerannt?«, fragte Kaspar. Er kannte Jojanna und ihren Sohn gut genug, um zu wissen, dass der Junge seiner Mutter sehr ergeben war, und er konnte sich keinen Grund vorstellen, wieso er von zu Hause wegrennen sollte.
»Eine Anwerbemannschaft kam vorbei, und Jörgen erfuhr, dass sein Vater bei einer Kompanie Soldaten in Higara dient – sieht so aus, als wäre Bandamin gefangen genommen worden von einer Kompanie von … na ja, sie sind Sklavenjäger, egal, wie sie sich nennen, aber da sie die, die sie gefangen genommen haben, an die Armee von Muboya verkauften, nannten sie sich ›Anwerber‹.«
Kaspar erinnerte sich an ein relativ angenehmes Essen mit dem General einer Brigade, der ein Vetter des Radschas von Muboya war. Wenn Kaspar Bandamin finden konnte, könnte er … was? In die Wege leiten, dass er entlassen wurde?
»Wie verläuft der Krieg?«, fragte Kaspar.
»Ich hörte vor einiger Zeit, dass Muboya Sasbataba zum Aufgeben gezwungen hat und nun gegen einen Banditenlord namens Okanala um die Herrschaft über das nächste Stück Land kämpft, das er haben will. Man muss es diesem jungen Radscha lassen: Wenn seine Armee wieder abzieht, ist das Land, das sie zurücklassen, beinahe so ruhig wie vor dem Krieg der Smaragdkönigin. Ich wünschte beinahe, er würde ein paar von seinen Jungs vorbeischicken, um die Dinge zwischen hier und den Heißen Landen ein wenig zu beruhigen.« Er sah, dass Kaspars Krug leer war, und fragte: »Noch eins?«
Kaspar schob sich vom Tresen weg. »Später. Lasst mich erst mein Pferd füttern und dafür sorgen, dass es genug Wasser hat.«
»Bleibt Ihr?«
Kaspar nickte. »Ich brauche ein Zimmer.«
»Sucht Euch eins aus«, sagte Sagrin. »Ich habe Lammbraten auf dem Spieß, und das Brot wurde gestern frisch gebacken.«
»Das wird genügen«, erwiderte Kaspar und verließ den Schankraum.
Draußen war die Nachtluft kühl; in diesem Land herrschte Winter, aber er war weit genug im Norden und nahe genug an den Heißen Landen, dass es nie richtig kalt wurde. Er ging zum Stall, holte einen Eimer, füllte ihn am Brunnen und vergewisserte sich, dass der Trog voll war. Er legte seinem Pferd einen Futtersack an und ließ sich ein wenig Zeit, das Tier genau zu betrachten. Immerhin war er scharf geritten und wollte sich überzeugen, dass es dem Wallach gutging. Er sah einen alten Striegel auf dem Regal neben wertlosem altem Zaumzeug, griff danach und begann, das Fell des Tieres zu bürsten.
Während er striegelte, versank Kaspar in Gedanken. Ein Teil von ihm hatte hierher zurückkehren wollen, um sich ein neues persönliches Reich zu errichten, aber dieser Tage war der Ehrgeiz in seinem Herzen eher gedämpft, wenn auch nie vollkommen verschwunden. So stark der Einfluss des verrückten Zauberers Leso Varen auf Kaspar auch gewesen sein mochte, das grundlegende Wesen des ehemaligen Herzogs von Olasko war auch ohne ihn noch ehrgeizig.
Die Männer, die auf diesem Kontinent Ordnung ins Chaos brachten, waren Männer mit Weitsicht, aber auch mit Begierden. Macht um ihrer selbst willen stellte den Höhepunkt dieser Gier dar; Macht um anderer willen hatte einen edleren Beigeschmack, den Kaspar gerade erst zu schätzen begonnen hatte, als er Männer wie Pug, Magnus und Nakor beobachtete, Männer, die erstaunliche Dinge tun konnten, aber nur danach strebten, die Welt zu einem sichereren Ort für alle zu machen.
Er schüttelte den Kopf über diesen Gedanken und erkannte, dass er keinerlei legale oder ethische Grundlage dafür hatte, hier ein Imperium zu errichten; er wäre nur ein weiterer aufgeblasener Banditenlord, der sich sein eigenes Königreich schuf.
Er seufzte und legte den Striegel weg. Es war besser, General Alenburga zu suchen und in den Dienst des Radschas einzutreten. Kaspar bezweifelte nicht, dass er schnell befördert werden und bald seine eigene Armee kommandieren würde. Aber konnte er je in der Armee eines anderen dienen?
Er hielt inne und fing an zu lachen. Was sollte das jetzt? Er diente dem Konklave, trotz der Tatsache, dass er ihm nie einen förmlichen Diensteid geleistet hatte. Seit er Pug und seinen Gefährten von dem Talnoy und der Gefahr erzählt hatte, die Kalkin ihm auf dem Heimatplaneten der Dasati zeigte, hatte Kaspar im Auftrag des Konklaves Nachrichten überbracht und Missionen für es durchgeführt.
Immer noch leise lachend, als er die Tür zum Schankraum erreichte, kam Kaspar zu dem Schluss, dass er diesem Land diente, ebenso wie dem Rest der Welt, und seine Tage als Herrscher vorüber waren. Als er die Tür aufschob, dachte er: Zumindest ist dieses Leben interessant.

Zehn Tage später führte Kaspar sein Pferd durch die überfüllten Straßen von Higara. Die Stadt hatte sich in den vergangenen drei Jahren verändert; überall entdeckte er Anzeichen von Wohlstand. Neue Häuser verwandelten die kleine Stadt in eine große. Als er zum letzten Mal durch Higara gekommen war, hatte hier die Armee des Radschas von Muboya Aufstellung genommen und sich auf eine Offensive nach Süden vorbereitet. Nun waren die Wachtmeister der Stadt die einzigen Männer in Uniform. Kaspar bemerkte, dass sie Farben trugen, die an die reguläre Armee erinnerten, ein klares Zeichen, dass Higara nun fester Bestandteil von Muboya war, ganz gleich, wo die Bündnistreue des Städtchens früher gelegen hatte.

Kaspar fand das Gasthaus, in dem er vor drei Jahren mit General Alenburga gesprochen hatte, und er sah, dass es wieder zu seiner früheren Ruhe gefunden hatte. Nirgendwo waren mehr Soldaten zu sehen, und stattdessen kam ein Junge aus dem Stall gerannt, um sich um Kaspars Pferd zu kümmern. Der Junge war etwa im gleichen Alter wie Jörgen, als Kaspar ihn zum letzten Mal gesehen hatte, und erinnerte ihn erneut daran, warum er diese Reise unternahm. Er schob ein wachsendes Gefühl von Vergeblichkeit bei dem Gedanken beiseite, in diesem riesigen Land einen einzelnen Jungen und seine Mutter zu finden, und reichte dem Jungen eine Kupfermünze. »Wasch ihm den Straßendreck ab und striegle ihn«, wies er ihn an. Der Junge grinste, als er die Münze einsteckte, und versprach, alles für das Pferd zu tun.

Kaspar betrat das Gasthaus und sah sich um. Es war voll mit ortsansässigen Kaufleuten, die ihre Mittagsmahlzeit zu sich nahmen, und anderen, die für die Reise gekleidet waren. Kaspar ging zur Theke, und der Wirt nickte. »Mein Herr?«

»Bier«, sagte Kaspar.

Als der Krug vor ihm stand, zog Kaspar eine weitere Kupfermünze heraus, und der Wirt griff danach. Er wog sie in der Hand, holte rasch einen Prüfstein heraus, sah sich die Farbe der Münze an und sagte dann: »Das da genügt für zwei.«

»Trinkt selbst eins«, erwiderte der ehemalige Herzog.
Der Wirt lächelte. »Ein bisschen früh für mich. Vielleicht später. Danke.«
Kaspar nickte. »Wo befindet sich dieser Tage die hiesige Garnison?«
»Wir haben keine«, erklärte der Wirt. Er zeigte in Richtung der Straße nach Süden. »Es gibt eine Garnison in Dondia, einen guten Tagesritt entfernt. Als Sasbataba sich ergab, holten sie alle Soldaten hier weg. Wir haben regelmäßig einmal in der Woche eine Patrouille, und es gibt eine Stadtmiliz, um den Wachtmeistern zu helfen, wenn das nötig sein sollte, aber um ehrlich zu sein, Fremder, es ist hier so ruhig geworden, dass man es beinahe als friedlich bezeichnen könnte.«
»Das ist sicher eine willkommene Abwechslung«, sagte Kaspar.
»Da kann ich nicht widersprechen«, stimmte der Wirt ihm zu.
»Habt Ihr ein Zimmer?«
Der Wirt nickte und holte einen Schlüssel heraus. »Ganz oben, letzte Tür links. Hat ein Fenster.«
Kaspar nahm den Schlüssel. »Wo ist das Haus der Wachtmeister?«
Der Wirt erklärte ihm den Weg, und nachdem er sein Bier und ein eher langweiliges Essen aus kaltem Rindfleisch und kaum mehr warmem Gemüse zu sich genommen hatte, machte sich der ehemalige Herzog auf zum Haus der Wachtmeister. Auf dem kurzen Weg nahm er Geräusche und Gerüche eines wimmelnden Handelszentrums wahr. Wie auch immer der vorige Zustand von Higara gewesen war, nun stellte es eindeutig eine regionale Drehscheibe für ein immer weiter wachsendes Territorium dar. Einen kurzen Augenblick verspürte Kaspar so etwas wie Bedauern; Flynn und die anderen Kaufleute aus dem Königreich würden an einem Ort wie diesem die Reichtümer gefunden haben, die sie suchten. Die vier Kaufleute aus dem Königreich der Inseln waren dafür verantwortlich gewesen, dass Kaspar in den Besitz des Talnoy kam, und keiner von ihnen hatte bis zu seinem Tod gewusst, welche Rolle er spielte.
Als Kaspar an dieses schreckliche Ding dachte, fragte er sich, ob er sich nicht für seine Suche nach Jojanna und Jörgen eine Zeitgrenze auferlegen sollte.
Er fand das Haus der Wachtmeister ohne Probleme und schob die Tür auf.
Ein junger Mann mit einem Abzeichen an seinem Hemd blickte von einem Tisch auf, der als Schreibtisch diente, und gab sich so wichtigtuerisch, wie es nur ein Junge konnte, dem man erst vor kurzem eine Verantwortung übertragen hatte. »Was kann ich für Euch tun?«
»Ich suche nach einem Soldaten namens Bandamin.«
Der Junge, gutaussehend mit hellbraunem Haar und ein paar Sommersprossen, versuchte eine nachdenkliche Haltung einzunehmen. Einen Augenblick später sagte er: »Ich kenne diesen Namen nicht. In welcher Kompanie dient er?«
»Das weiß ich nicht. Er lebte außerhalb eines Dorfs im Norden und wurde in den Dienst gezwungen.«
»Ein Zwangsrekrutierter, wie?«, sagte der junge Mann. »Wahrscheinlich ist er bei der Infanterie südlich von hier.«
»Und wie sieht es mit einem Jungen aus? Etwa elf Jahre alt.« Kaspar versuchte einzuschätzen, wie viel Jörgen gewachsen war, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, und hielt die Hand in die entsprechende Höhe. »Etwa so groß. Blondes Haar.«
Der junge Wachtmeister zuckte die Achseln. »Es gibt viele Jungen, die in die Stadt kommen – Helfer von Karawanenköchen, Gepäckratten, Jungen ohne Wohnsitz, Ausreißer. Wir versuchen, sie so gut wie möglich von den Straßen fernzuhalten, aber einige von ihnen bilden Banden.«
»Wo würde ich eine solche Bande finden?«
Der junge Mann sah Kaspar mit etwas an, was der ehemalige Herzog für den Versuch einer misstrauischen Miene hielt, aber es ließ den Wachtmeister nur lächerlich aussehen. »Warum sucht Ihr diesen Jungen?«
»Sein Vater wurde in die Armee gezwungen, und der Junge wollte nach ihm suchen. Und seine Mutter sucht nach ihnen beiden.«
»Und Ihr sucht nach der Mutter?«
»Nach allen«, sagte Kaspar. »Es sind Freunde.«
Der junge Mann zuckte die Achseln. »Tut mir leid, aber wir bemerken nur die, die Ärger machen.«
»Was ist mit dieser Jungenbande?«
»Für gewöhnlich findet Ihr sie nahe der Karawanserei oder beim Markt. Wenn sich zu viele von ihnen sammeln, scheuchen wir sie weg, aber dann sammeln sie sich nur woanders.«
Kaspar bedankte sich bei dem jungen Wachtmeister und ging. Er sah sich auf der belebten Straße um, als suche er nach Inspiration, und fühlte sich wie ein Mann, der über ein Schlachtfeld kriecht und unter den Zehntausenden, die abgeschossen wurden, nach einem bestimmten Pfeil sucht. Er warf einen Blick zum Himmel und nahm an, dass er bis zum Sonnenuntergang noch ein paar Stunden Zeit hatte. Die Märkte waren hier den ganzen Tag gut besucht, und es gab keine Ruhepause am Nachmittag wie in den heißeren Teilen von Groß-Kesh. Hier drängten sich Käufer und Händler bis kurz vor Sonnenuntergang, und dann wurde es noch einmal wirklich hektisch, wenn die Kaufleute ihre Waren zusammenpackten. Ihm blieben etwa zweieinhalb Stunden.
Er erreichte den Markt und sah sich um. Die Buden und Stände der Händler waren behelfsmäßig auf einem riesigen Platz errichtet worden, der mehr zufällig als einem Entwurf folgend entstanden war. Kaspar nahm an, es hatte ursprünglich eine Hauptstraße durch die Siedlung gegeben – die Straße von Norden nach Süden, die diese Region beherrschte. Irgendwann in den vergangenen Jahren hatten die Umstände die Straße etwa hundert Schritte nach Osten verlagert, und zu diesem Zeitpunkt waren überall Gebäude errichtet worden. Das Ergebnis war, dass ein halbes Dutzend kleinerer Straßen und eine Handvoll Gassen aus diesem Bereich führten und der leere Platz in der Mitte als Marktplatz diente.
Kaspar sah einige Kinder, von denen die meisten ihren Familien in Buden oder Zelten halfen. Der Markt von Higara war ungeordnet, bis auf die Tatsache, dass offenbar nach allgemeiner Übereinkunft niemand ein Zelt, eine Bude oder einen Tisch in der Mitte des Platzes aufstellen durfte. Dort erhob sich ein einzelner Laternenpfahl, gleich weit entfernt von den Kreuzungen der Seitenstraßen, die den Platz formten. Kaspar schlenderte hinüber und sah, dass eine brauchbare Laterne an dem Pfahl hing, also nahm er an, dass sie jeden Abend von einem Mann, den die Stadt bezahlte, angezündet wurde, vielleicht von einem der Wachtmeister. Das hier war der einzige Laternenpfahl, den er in Higara gesehen hatte, also ging er davon aus, dass es keinen offiziellen Laternenanzünder gab. Er bemerkte verblasste Schrift, die in den Pfosten geritzt war: Irgendwann in grauer Vorzeit hatte ein Herrscher beschlossen, dass die Region einen Richtungsanzeiger brauchte. Kaspar ließ die Hand über das alte Holz gleiten und fragte sich, welche Geheimnisse aus längst vergangenen Zeitaltern dieser Pfosten unter seiner einzelnen Laterne belauscht hatte.
Er lehnte sich gegen den Pfosten und sah sich um. Wie der geübte Jäger, der er war, bemerkte er kleine Dinge, die den meisten anderen entgangen wären. Zwei Jungen trieben sich am Eingang einer Gasse herum und sprachen offenbar über etwas, aber sie behielten dabei die Umgebung im Auge. Späher, dachte Kaspar. Aber Späher für was?
Nachdem er sie beinahe eine halbe Stunde beobachtet hatte, verstand Kaspar ein wenig mehr. Hin und wieder kamen zwei Jungen aus der Gasse, oder sie gingen hinein. Bei allen anderen, die der Gasse nahe kamen, wurde ein Zeichen gegeben – Kaspar nahm an, ein Pfiff oder ein einzelnes Wort, obwohl er zu weit entfernt war, um es zu hören. Wenn die potenzielle Gefahr weiterzog, wurde ein weiteres Zeichen gegeben.
Nicht nur das Bedürfnis, vielleicht etwas über Jörgen und seine Mutter zu erfahren, sondern auch schlichte Neugier trieben Kaspar schließlich quer über den Markt zu der Gasse. Er kam näher, blieb aber ein wenig entfernt von den Spähern stehen.
Er wartete, beobachtete und wartete noch ein wenig länger. Er konnte spüren, dass etwas geschehen würde, und dann geschah es.
Wie Ratten während eines plötzlichen Sturzregens aus einem überfluteten Abfluss quellen, kamen die Jungen aus der Gasse gerannt. Die beiden Späher liefen einfach davon, scheinbar in zufällige Richtungen, aber das Dutzend hinter ihnen trug Brotlaibe in den Händen – jemand musste einen Weg ins Hinterzimmer einer Bäckerei gefunden und den anderen Jungen so viel frisches Brot gereicht haben, wie er konnte, bevor der Bäcker Alarm schlug. Einen Augenblick später waren auf der anderen Seite des Platzes Rufe zu hören, als die Kaufleute bemerkten, dass ein Verbrechen im Gang war.
Ein Junge, der nicht älter als zehn sein konnte, eilte an Kaspar vorbei, der die Hand ausstreckte und ihn beim Kragen seines schmutzigen Hemdes packte. Der Junge ließ sofort sein Brot los und warf die Arme gerade nach oben, und Kaspar erkannte, dass er vorhatte, aus dem Lumpen zu schlüpfen, den er als Hemd trug.
Also packte er ihn stattdessen an seinem langen schwarzen Haar. Der Junge schrie: »Lass mich los!«
Kaspar zerrte ihn in eine andere Gasse. Als er außer Sichtweite war, riss er den Jungen herum und sah ihn sich genauer an. Der Junge trat um sich und versuchte ihn mit überraschender Kraft zu beißen und zu schlagen, aber Kaspar war in seinem Leben mit vielen wilden Tieren fertig geworden, hatte unter anderem eine unvergessliche und beinahe katastrophale Begegnung mit einem wütenden Vielfraß hinter sich. Das Geschöpf mit eisernem Griff im Nacken zu packen und mit der anderen seinen Schwanz zu umklammern, war das Einzige zwischen Kaspar und dem Verlust seiner Organe gewesen, bis der Jagdmeister seines Vaters kam und sich um das Tier kümmerte. Er hatte von dieser Begegnung immer noch diverse Narben.
»Hör auf zu zappeln, und ich werde dich absetzen. Aber du musst zustimmen, ein paar Fragen zu beantworten.«
»Lass mich los!«, schrie der schmuddelige Junge. »Hilfe!«
»Willst du tatsächlich, dass der Wachtmeister kommt und mit dir spricht?«, fragte Kaspar und hielt seine zappelnde Beute hoch genug, dass der Junge auf den Zehenspitzen tanzen musste.
Der Junge hörte auf sich zu wehren. »Nicht wirklich.«
»Dann beantworte mir ein paar Fragen, und du darfst gehen.«
»Euer Wort?«
»Mein Wort«, antwortete Kaspar.
»Schwört bei Kalkin«, sagte der Junge.
»Ich schwöre beim Gott der Diebe, Lügner und Betrüger, dass ich dich gehen lasse, nachdem du meine Fragen beantwortet hast.«
Der Junge hatte aufgehört, sich zu wehren, aber Kaspar hielt ihn weiterhin fest. »Ich suche nach einem Jungen, etwa in deinem Alter.«
Der junge Dieb warf einen misstrauischen Blick auf Kaspar und fragte: »An welche Art Junge hattet Ihr denn gedacht?«
»Nicht eine Art, ein bestimmter Junge namens Jörgen. Wenn er hier vorbeigekommen ist, war das etwa vor einem Jahr.«
Der Junge entspannte sich. »Ich kenne ihn. Ich meine, ich kannte ihn. Ein blonder, sonnenverbrannter Bauernjunge; kam aus dem Norden und suchte nach seinem Pa, sagte er. War beinahe verhungert, aber wir haben ihm das eine oder andere beigebracht. Er ist eine Weile bei uns geblieben. Kein guter Dieb, aber bei Schlägereien stand er seinen Mann. Er konnte gut kämpfen.«
»›Wir‹?«, fragte Kaspar.
»Die anderen Jungen und ich, meine Kumpel. Wir gehören alle zusammen.«
Zwei Stadtbewohner bogen in die Gasse ein, also setzte Kaspar den Jungen ab, hielt ihn aber weiter am Arm fest. »Wo ist er hingegangen?«
»Nach Süden, nach Kadera. Der Radscha kämpft dort unten, und dort ist Jorgens Pa hingegangen.«
»Hat Jorgens Mutter ihn gesucht?« Kaspar beschrieb Jojanna, dann ließ er den Arm des Jungen los.
»Nein, hab sie nie gesehen«, sagte der Junge, und bevor Kaspar reagieren konnte, war er weg.
Kaspar holte tief Luft, dann wandte er sich wieder dem Markt zu. Er würde sich heute Nacht ausruhen, und morgen würde er wieder nach Süden ziehen.

Eine Woche später verließ Kaspar den relativen Wohlstand dessen, was, wie er erfahren hatte, nun Königreich Muboya genannt wurde. Der junge Radscha hatte den Titel eines Maharadschas angenommen, was »großer König« bedeutete. Wieder ritt er durch Kriegsgebiet, und mehrmals wurde er aufgehalten und verhört. Diesmal stieß er jedoch auf weniger Hindernisse, da er überall einfach erklärte, er sei auf der Suche nach General Alenburga. Sein offensichtlicher Wohlstand, seine gute Kleidung und ein gesundes Pferd wiesen ihn als »jemand Wichtigen« aus, und er wurde meist ohne weitere Fragen weitergewunken.

Das Dorf, sagte man ihm, hieß Timbe, und es war bisher dreimal überrannt worden, zweimal von den Streitkräften von Muboya. Es lag einen halben Tagesritt südlich von Kadera, dem südlichen Kommandostützpunkt des Maharadschas. Nachdem er in der Abenddämmerung eingetroffen war, hatte man Kaspar gesagt, der General sei zu diesem Dorf gekommen, um das Gemetzel zu inspizieren, zu dem die letzte Offensive geführt hatte.

Das Einzige, was Kaspar überzeugte, dass die Armee von Muboya nicht besiegt worden war, war der Mangel an Soldaten im Rückzug. Aber wenn man von der Situation jener Streitkräfte ausging, die sich noch im Feld befanden, und der überall sichtbaren Zerstörung, war die Offensive des Maharadschas hier eindeutig zum Stillstand gekommen. Bestenfalls hatte er ein Unentschieden erreicht, schlimmstenfalls würde eine Gegenoffensive beginnen, und zwar schon in ein oder zwei Tagen.

Es fiel Kaspar nicht schwer, den Pavillon des Kommandanten zu finden, denn er befand sich oben auf einem Hügel, von dem man das Schlachtfeld überblicken konnte. Als er den Hügel hinaufritt, konnte er sehen, wie die Stellungen im Süden verstärkt wurden, und zu dem Zeitpunkt, als sich zwei Männer näherten, hatte er bereits keine Zweifel mehr an der taktischen Situation des Konflikts.

Ein Offizier und eine Wache winkten Kaspar zu, und der Offizier fragte: »Euer Begehren?«
»Ein Augenblick mit General Alenburga.« Kaspar stieg ab.
»Wer seid Ihr?«, fragte der Offizier, ein müde und schmutzig aussehender junger Mann. Sein weißer Turban war beinahe beigefarben vom Straßenstaub, und er hatte Blutspritzer auf Überhose und Stiefeln. Die dunkelblauen Waffenröcke von beiden Männern verbargen kaum die tiefroten Flecken des Bluts anderer Männer.
»Ich bin Kaspar von Olasko. Falls die Erinnerung des Generals von dem Konflikt dort unten überwältigt wird, erinnert ihn an den Fremden, der vorschlug, außerhalb von Higara die Bogenschützen hinten aufzustellen.«
Der Offizier hatte Kaspar offenbar wegschicken wollen, aber nun sagte er: »Ich gehörte zu der Kavallerie, die nach Norden ritt und diese Bogenschützen flankierte. Ich erinnere mich, dass erzählt wurde, ein Ausländer habe dem General den Vorschlag gemacht.«
»Es freut mich, dass man sich an mich erinnert«, sagte Kaspar.
Der Offizier wandte sich an die Wache: »Sieh nach, ob der General einen Augenblick Zeit für … für einen alten Bekannten hat.«
Einen Moment später wurde Kaspar in das Hauptzelt des Pavillons gebeten. Er reichte die Zügel seines Pferds der Wache und folgte dem Offizier nach drinnen.
Der General sah zehn Jahre älter aus, nicht drei, aber er lächelte, als er aufblickte. Sein dunkles Haar war nun überwiegend grau und hinter seine Ohren gekämmt. Sein Kopf war unbedeckt. »Seid Ihr zu einem weiteren Schachspiel gekommen, Kaspar?« Er stand auf und streckte die Hand aus.
Kaspar schüttelte sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass man sich an mich erinnert.«
»Nicht viele Männer liefern mir einen brillanten taktischen Plan und besiegen mich am gleichen Tag beim Schach.« Er bedeutete Kaspar, sich auf einen der Segeltuchstühle neben einem Tisch mit einer Landkarte zu setzen.
Dann bedeutete er seinem Burschen, etwas zu trinken zu holen. »Ich hätte Euch unterwegs ein paarmal brauchen können, Kaspar. Ihr habt ein besseres Auge für das Schlachtfeld als die meisten meiner Offiziere.«
Kaspar nickte zu dem Kompliment und nahm einen Becher gekühltes Bier entgegen. »Wo findet Ihr Eis in dieser Gegend?«, fragte er, während er trank.
»Die Streitkräfte unseres Feindes, des Königs von Okanala, wie er sich nennt, hatten ein Eishaus in einem Dorf, das wir vor ein paar Tagen befreit haben. Es ist ihnen gelungen, sämtliche Vorräte wegzuschleppen und alles andere zu vernichten, was für uns hilfreich sein könnte, aber irgendwie konnten sie keinen Weg finden, all das Eis so schnell zu schmelzen.« Er lächelte und trank einen Schluck. »Dafür bin ich dankbar.« Er setzte den Becher ab. »Als ich Euch zum letzten Mal sah, versuchtet Ihr, einen toten Freund nach Hause zu bringen, damit er begraben wird. Was führt Euch diesmal hierher?«
Kaspar beschönigte, was nach ihrer letzten Begegnung geschehen war. »Der Bewohner des Sargs gelangte tatsächlich an den Ort, an den er gelangen sollte, und seitdem bin ich mit anderen Pflichten beschäftigt. Jetzt suche ich hier nach Freunden.«
»Tatsächlich?«, erwiderte der General. »Ich dachte, als wir uns das letzte Mal begegneten, sagtet Ihr, Ihr seid ein Kaufmann. Und jetzt habt Ihr Freunde so weit im Süden?«
Kaspar verstand das Misstrauen eines Generals, der gerade eine Schlacht verloren hatte. »Sie kommen eigentlich aus dem Norden. Ein Mann namens Bandamin wurde zwangsweise zum Dienst verpflichtet, ziemlich weit nördlich von hier – tatsächlich glaube ich, dass er von Sklavenhändlern gefangen genommen wurde, die illegale Geschäfte außerhalb von Muboya mit Euren Anwerbern abschlossen.«
»Es wäre nicht das erste Mal«, sagte der General. »Während eines Krieges ist es schwieriger, sich um Feinheiten zu kümmern.«
»Er hatte eine Frau und einen Sohn, und der Sohn erfuhr, dass sein Vater bei Eurer Armee war, und ging nach Süden, um nach ihm zu suchen. Die Mutter folgte dem Jungen.«
»Und Ihr folgtet der Mutter«, sagte Alenburga.
»Ich möchte, dass sie und der Junge sicher nach Hause zurückkehren.«
»Und der Mann auch?«, fragte der General.
»Er ebenfalls, wenn das möglich ist«, erwiderte Kaspar. »Gibt es einen Preis, ihn freizukaufen?«
Der General lachte. »Wenn wir erlauben würden, dass Männer sich aus dem Dienst freikauften, hätten wir eine ziemlich jämmerliche Armee, denn gerade die Klügsten würden immer Mittel und Wege finden. Nein, er wird fünf Jahre dienen, ganz gleich, wie er in den Dienst gelangte.«
Kaspar nickte. »Das überrascht mich nicht sonderlich.«
»Ihr könnt gerne nach dem Jungen und seiner Mutter suchen. Die Jungen, die beim Gepäcktransport arbeiten, sind hügelabwärts und westlich von hier, bei einem Bach. Und die meisten Frauen, Ehefrauen ebenso wie Prostituierte, befinden sich ebenfalls in dieser Gegend.«
Kaspar trank sein Bier aus und stand auf. »Dann werde ich Eure Zeit nicht länger verschwenden, General. Ihr wart sehr großzügig.«
Als er sich umwandte, um zu gehen, fragte der General: »Was haltet Ihr von der Situation?«
Kaspar zögerte, dann drehte er sich noch einmal um, um den Mann anzusehen. »Der Krieg ist vorbei. Es ist Zeit, mit den Friedensverhandlungen zu beginnen.«
Alenburga lehnte sich zurück, fuhr mit Zeigefinger und Daumen an seinem Kinn entlang und zupfte einen Moment an seinem Bart. »Warum sagt Ihr das?«
»Ihr habt jeden fähigen Mann im Umkreis von dreihundert Meilen rekrutiert, General. Ich bin auf meinem Weg hierher durch zwei Städte, ein halbes Dutzend kleinerer Siedlungen und zwanzig Dörfer geritten. Dort gibt es nur noch Männer über vierzig und Jungen unter fünfzehn. Jeder Mann, der auch nur im Geringsten kämpfen kann, befindet sich bereits in Eurem Dienst. Ich sehe, dass Ihr Euch im Süden eingrabt; Ihr erwartet einen Gegenangriff von dort, aber wenn Okanala wirklich ein paar Leute übrig hat, die der Rede wert sind, wird er an Eurer linken Flanke angreifen und Euch zurück zum Bach treiben. Ihr wärt am besten dran, wenn Ihr zur Siedlung zurückweichen und Euch dort eingraben würdet. General, das hier ist Eure Grenze, mindestens für die nächsten fünf Jahre, aber wahrscheinlicher für zehn. Zeit, diesem Krieg ein Ende zu machen.«
Der General nickte. »Aber unser Maharadscha hat eine Vision, und er will weiter nach Süden vordringen, bis wir nahe genug an der Stadt am Schlangenfluss sind, dass wir das gesamte Land im Osten als befriedet bezeichnen können.«
»Ich denke, Euer ehrgeiziger junger Herr stellt sich sogar vor, irgendwann die Stadt selbst einnehmen und sie Muboya hinzufügen zu können«, erwiderte Kaspar.
»Das mag sein«, gab Alenburga zu. »Aber Ihr habt recht, was alles andere angeht. Meine Späher sagen mir, dass sich Okanala ebenfalls eingräbt. Wir haben beide unsere Kräfte ausgespielt.«
»Ich weiß nichts über die Politik dieses Kontinents«, sagte Kaspar, »aber es gibt Zeiten, in denen ein Waffenstillstand das Gesicht rettet, und Zeiten, in denen er notwendig ist und die einzige Alternative zu vollkommenem Ruin darstellt. Der Sieg ist unerreichbar, und bei jeder weiteren Bewegung steht Euch eine Niederlage bevor. Lasst Euren Maharadscha eine seiner Verwandten mit einem Verwandten des Königs verheiraten und macht der Sache ein Ende.«
Der General stand auf und streckte die Hand aus. »Wenn Ihr Eure Freunde gefunden und nach Hause gebracht habt, Kaspar von Olasko, seid Ihr in meinem Zelt jederzeit willkommen. Wenn Ihr zurückkehrt, werde ich einen General aus Euch machen, und wenn die Zeit gekommen ist, werden wir gemeinsam zum Meer vorstoßen.«
»Ihr wollt mich zum General machen?«, sagte Kaspar grinsend.
»Nun ja, ich kommandierte nur eine Brigade, als Ihr mich zum letzten Mal gesehen habt«, sagte der General und erwiderte Kaspars Grinsen. »Jetzt befehlige ich die gesamte Armee. Mein Vetter weiß Erfolge zu schätzen.«
»Ah«, sagte Kaspar und schüttelte die Hand des Mannes. »Wenn mich der Ehrgeiz packt, weiß ich, wo ich Euch finden kann.«
»Viel Glück, Kaspar von Olasko.«
»Viel Glück, General.«
Kaspar verließ den Pavillon und stieg auf sein Pferd. Er lenkte den Wallach im Schritt den Hügelabhang hinunter zu einem Tal, durch das ein breiter Bach floss.
Er verspürte wachsende Unruhe, als er sich den Gepäckwagen näherte, denn er konnte überall Anzeichen eines Kampfes sehen. Die Kriegstraditionen verboten es, die Gepäckjungen und die Frauen anzugreifen, die der Armee folgten, aber es gab Zeiten, da solche Dinge einfach ignoriert wurden.
Mehrere der Jungen, die er sah, waren verwundet, einige geringfügig, andere schwer, und viele trugen Verbände. Ein paar lagen auf Strohballen unter den Wagen und schliefen; ihre Verletzungen machten es unmöglich, dass sie arbeiteten. Kaspar ritt zu der Stelle, wo ein untersetzter Mann in einem blutigen Waffenrock auf einem Wagen saß und weinte. Ein vor kurzem abgelegter metallener Brustharnisch lag auf dem Sitz neben ihm, ebenso wie ein Helm mit einem Federbusch, und er starrte in die Ferne. »Seid Ihr der Gepäckmeister?«, fragte Kaspar.
Der Mann nickte nur, und Tränen liefen weiter über seine Wangen.
»Ich suche nach einem Jungen mit Namen Jörgen.«
Der Mann biss die Zähne zusammen und stieg langsam von dem Wagen. Als er vor Kaspar stand, sagte er: »Kommt mit.«
Er führte Kaspar über eine kleine Anhöhe, wo eine Gruppe von Soldaten einen Graben aushob, während Jungen Holz und Eimer mit einer Flüssigkeit herantrugen, die Kaspar für Öl hielt. Es würde keine einzelnen Scheiterhaufen für die Toten geben – dies würde eine Massenverbrennung werden.
Die Toten hatte man auf der anderen Seite des Grabens niedergelegt, wo man sie schnell auf das Holz legen konnte, bevor das Öl über sie gegossen und die Fackeln hineingeworfen wurden. Nach kurzer Zeit blieb der Mann stehen. Kaspar blickte hinunter und sah drei Leichen dicht beieinander.
»Er war ein so guter Junge«, sagte der Meister des Gepäcks, die Stimme heiser vom Brüllen von Befehlen, vom Schlachtenstaub, von der Hitze des Tages und von mühsam beherrschten Gefühlen. Jörgen lag neben Jojanna, und neben ihr lag ein Mann in Soldatenuniform. Es konnte nur Bandamin sein, denn er sah dem Jungen ähnlich.
»Er kam vor beinahe einem Jahr, um nach seinem Vater zu suchen, und … und seine Mutter kam kurz darauf. Er arbeitete schwer und ohne sich zu beschweren, und seine Mutter kümmerte sich um alle Jungen, als wären es ihre eigenen. Wenn sein Vater konnte, kam er zu ihnen, und es war eine Freude, sie zu kennen. Inmitten von all dem« – er bewegte die Hand in einer umfassenden Geste – »fanden sie ein bisschen Glück darin, einfach nur zusammen zu sein. Als …« Er hielt inne, und neue Tränen traten ihm in die Augen. »Ich bat darum, dass der … der Vater zum Gepäck abgestellt wurde. Ich dachte, ich tue ihnen allen einen Gefallen. Nie hätte ich angenommen, dass der Kampf bis zu den Gepäckwagen vordringen würde. Es verstößt gegen alle Regeln des Krieges! Sie haben die Jungen und die Frauen getötet! Es verstößt gegen alle Regeln!«
Kaspar nahm sich einen Moment, um auf die drei hinabzusehen, wiedervereint vom Schicksal und zusammen gestorben, weit weg von zu Hause. Bandamin hatte einen schrecklichen Schlag in die Brust bekommen, vielleicht von einer Keule, aber sein Gesicht war unverletzt. Er trug einen Waffenrock im Blau und Gelb von Muboya. Der Rock war ausgebleicht und schmutzig und ein wenig zerrissen. Kaspar sah am Gesicht des Vaters, was für ein Mann Jörgen geworden wäre. Bandamin sah aus wie ein ehrlicher Mann, wie ein Mann, der schwer arbeitete. Kaspar glaubte auch, dass er gern viel gelacht hatte. Er hatte die Augen geschlossen, als schliefe er. Jojanna schien keine Wunde zu haben, also nahm Kaspar an, dass sie von einem Pfeil oder einer Speerspitze in den Rücken getroffen worden war, vielleicht, als sie zu den Jungen rannte, um sie zu beschützen. Jorgens Haar war blutverklebt, und sein Kopf lag in einem seltsamen Winkel. Kaspar fühlte sich ein winziges bisschen erleichtert zu wissen, dass er schnell gestorben war und vielleicht sogar schmerzlos. Er verspürte ein seltsames, unerwartetes Ziehen: Jörgen war immer noch so jung!
Er starrte die drei an, die ganz so aussahen wie eine Familie, die nebeneinander schläft. Er wusste, dass die Welt sich weiterdrehte und niemand außer ihm und vielleicht ein paar Leuten fern im Norden das Sterben von Bandamin und seiner Familie bemerken würde. Jörgen, der letzte Sprössling dieses unbekannten Stammbaums, war tot, und mit ihm hatte diese Familie ihr Ende gefunden.
Der Gepäckmeister sah Kaspar an, als erwartete er tröstende Worte von ihm. Kaspar blickte einen weiteren Augenblick auf die drei Leichen hinab, dann bohrte er die Fersen in die Seiten seines Pferds, riss den Wallach herum und begann mit seinem langen Ritt nach Norden.
Als er das Schlachtfeld verließ, spürte er, wie etwas in ihm kalt und hart wurde. Es war so leicht, Okanala zu hassen, weil er gegen die Regeln »zivilisierter« Kriegsführung verstoßen hatte. Es war leicht, Muboya zu hassen, weil er einen Mann von seiner Familie weggeholt hatte. Es war leicht, alle und jeden zu hassen. Aber Kaspar wusste, dass er im Lauf der Jahre selbst bestimmte Befehle gegeben hatte, und wegen dieser Befehle waren hunderte von Bandamins von ihren Höfen geholt worden, und hunderte Jojannas und Jorgens hatten Entbehrungen oder sogar den Tod erleiden müssen.
Mit einem Seufzen, das sich anfühlte, als käme es tief aus seiner Seele, fragte sich Kaspar, ob es tatsächlich auch einen glücklichen Grund für die Existenz gab, etwas, was über Leiden und am Ende den Tod hinausging. Denn wenn es so etwas gab, wusste er in diesem Augenblick seines Lebens wirklich nicht, was es sein sollte.

Vier
Nachtgreifer